Der Rote Wolf
einer Gesellschaft wichtig waren. Und sie hatte Thord, mit dem sie das große Los ihres Lebens gezogen hatte.
Sie strich mit dem Finger über ihr Hochzeitsfoto, das im Flur der oberen Etage hing. Dann wusch sie sich das Gesicht und putzte sich die Zähne, ging auf Toilette, zog sich aus und trat wieder in den Flur hinaus. Ihre Kleider faltete sie ordentlich zusammen und legte sie auf einen Stuhl neben dem Büfett.
Sie hatte sich gerade das Nachthemd über den Kopf gestreift, als der Mann aus dem Ankleidezimmer trat. Er sah aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte, allerdings breiter und grauer.
»Du bist das!«, sagte sie konsterniert. »Was tust du hier?«
Sie bekam keine Angst, nicht einmal, als er seine Handschuhhände hob und um ihren Hals legte.
In Panik geriet sie erst, als sie keine Luft mehr bekam und das Adrenalin freigesetzt wurde. Der Raum kippte, und sie sah, wie sich die Decke über ihr wölbte. Sein Gesicht kam näher. Seine Hände waren wie ein Schraubstock um ihren Hals.
Keine Gedanken, keine Gefühle.
Nur der Schließmuskel des Enddarms, der nachgab, und die unerwartete Wärme in der Unterhose.
FREITAG, 20. NOVEMBER
Thomas betrat die Wohnung als ein Fremder. Er war lange in weiter Ferne gewesen und hatte nicht gewusst, ob er den Weg zurück finden würde. Die Dachwohnung in der Grev Turegatan auf Östermalm lag viele Lichtjahre entfernt, aber nun war er zu Hause, das spürte er am ganzen Körper, und es bedeutete eine ungeheure Erleichterung für ihn.
Er war zu Hause, dort, wo er wohnte.
Die Wohnung war voll vertrauter Geräusche, dem leisen Schnorcheln schlafender Menschen und dem Säuseln einer schlecht funktionierenden Lüftung. Kühle Luft zog an den Fenstern herein, und es hing der gleiche Essensdunst wie immer in der Luft. Er hängte den Mantel auf, stellte seinen Tennisschläger und die Sporttasche auf dem Fußboden des Flurs ab, zog seine Schuhe aus und betrachtete die Lüge, die vor ihm stand, den unbenutzten Trainingsanzug, das trockene Handtuch.
Er schluckte, verdrängte seine Schuldgefühle, tapste auf Strümpfen zu den Kindern und beugte sich über sie, ihre weit geöffneten Münder und ihre Schlafanzüge und Kuscheltiere.
Dies war die Wirklichkeit. Die Dachwohnung auf Östermalm war kalt und berechnend, die Möbel auf raffinierte Weise anbiedernd. Sophia Grenborgs Wohnung war blau und durchgestylt, sein Zuhause dagegen warm und gelb durch schlafende Kinder und schwankende Straßenlaternen.
Dann ging er zum Schlafzimmer, und seine Schritte wurden immer langsamer und schwerer. Er stellte sich in den Türrahmen und betrachtete seine Frau.
Sie war quer auf dem Bett liegend eingeschlafen, in Strümpfen, Pullover und Unterhose, und sie schlief genau wie die Kinder mit offenem Mund, atmete tief und gleichmäßig.
Sein Blick liebkoste ihren harten, kantigen, muskulösen und kraftvollen Körper.
Sophia Grenborg war so weiß und weich, sie stöhnte die ganze Zeit, wenn sie sich liebten.
Plötzlich schämte er sich so sehr, dass ihm schlecht wurde, und er verließ das Schlafzimmer und ließ sie dort ohne Decke quer auf dem Bett liegen.
Sie weiß es, dachte er. Jemand hat es ihr erzählt.
Er setzte sich an den Küchentisch, stützte die Ellbogen auf die Knie und strich sich mit den Fingern durch die Haare. Das kann nicht sein, dachte er. Sie würde niemals so ruhig schlafen, wenn sie es wüsste.
Er seufzte schwer. Seinen Gedanken konnte er nicht entfliehen, und er wusste jetzt schon, dass er neben ihr liegen würde, ohne einschlafen zu können. Er würde ihren Atemzügen lauschen und sich gleichzeitig nach Apfelhaaren und einem Hauch von Mentholzigaretten sehnen.
Verwirrt stand er in der Dunkelheit auf und stieß mit der Hüfte gegen die Spüle.
Sehnte er sich etwa nach ihr?
War das so?
Eine klebrige kleine Hand streichelte Annikas Wange. »Mama, tschüss, Mama.«
Sie blinzelte ins Licht und wusste einen Moment lang nicht, wo sie war. Nach einigen schlaftrunkenen Sekunden entdeckte sie, dass sie halb angezogen geschlafen hatte, blickte auf und sah Ellen, die sich mit herabhängenden Zöpfen und den Spuren von Erdnussbutter um den Mund über sie beugte.
Ihr wurde warm ums Herz, und sie lächelte.
»Hallo, mein Liebling.«
»Ich will heute zu Hause bleiben.«
Annika strich ihrer Tochter über die Wange und räusperte sich.
»Das geht leider nicht, aber ich hole dich gleich nach dem Mittagessen ab«, sagte sie, stemmte sich hoch, gab dem Mädchen einen Kuss auf den Mund und
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