Der Rote Wolf
Zimmer schweifen, über die Kochplatten und die Wandtäfelung und die bunten Flickenteppiche auf dem Plastikboden, und versuchte einen Punkt zu finden, der stillstand. Dann betrachtete er das Fenster.
Durch einen Spalt zwischen den schweren Vorhängen sah man den kalten blauen Tag. Langsam kam die Welt zum Stillstand, und er konnte leichter atmen und glitt schon bald in jene traumartige Schwellenregion, in der die Grenzen zur Wirklichkeit behutsam ausradiert wurden.
»Ich komme vom Segelklub Boje und möchte für Dienstag, 19 Uhr, den Studienraum buchen«, hörte er sich selbst mit einem eigentümlichen Echo im Hintergrund sagen. Vor ihm saß die Bibliothekarin, und vor ihr auf dem Tisch lag der große Terminkalender, und er wusste, dass sie ihm schon seit langem nicht mehr glaubte, denn er konnte unmöglich sowohl Segler als auch Fliegenfischer und Schmetterlingssammler und Ahnenforscher sein.
Alle, die zu den Versammlungen kamen, hatten einen Decknamen, ganz normale bürgerliche Namen wie Greger, Torsten oder Mats. Dass seine Wahl auf Ragnwald fiel, hatte viele die Nase rümpfen lassen, denn man sollte sich nie für etwas Besseres halten, aber er war etwas Besseres, und das begriffen sie auch, spätestens in Melderstein.
Er lachte leise und glucksend in seiner Halbwelt und kehrte zu dem Gutshof zurück, in jenen fieberheißen Frühsommer 1969, als die Welt auf der Schwelle zur großen Revolution stand. Sie hatten sich vorbereitet, hatten für den bewaffneten Kampf trainiert und rund um die Uhr Wachen um das Lager patrouillieren lassen. Die Mannschaft schnitzte Knüppel am Lagerfeuer, sie diskutierten Guerillataktiken und übten sich in Selbstverteidigung.
In Norwegen waren die Konflikte zwischen den linksradikalen Aktivisten und den anderen viel größer gewesen als in Schweden. In einer radikalen Buchhandlung war eine Bombe gelegt worden, und sie waren damals fest davon überzeugt, bald selbst an der Reihe zu sein.
Und sie hatten nicht die Absicht, sich lammfromm in ihr Schicksal zu ergeben.
Die Tatsache, dass sie ihre Kampfausbildung ausgerechnet in Melderstein absolvierten, war besonders amüsant, weil die Verwalter des Gutes religiös waren. Doch da er den Ort in seiner Eigenschaft als Gemeindeassistent des Bistums Lulea gebucht hatte, war niemand auf die Idee gekommen, seine Motive in Frage zu stellen, und so hatten sie in der kleinen Kirche des Hofes lautstarke Mao-Versammlungen abgehalten.
Die vollkommene Harmonie, die er in jenen Tagen erfahren durfte, wurde zu neuem Leben erweckt, und er erlebte noch einmal, wie seine Fähigkeit, sich genau an alle Zitate zu erinnern, ihm eine zentrale Position in der Führung eingebracht hatte, obwohl die Teilnehmer des Trainingscamps aus dem ganzen Land kamen. Die Nächte verbrachten sie mit Kampf- und Überlebenstraining, und dabei hatte er sie kennen gelernt, seinen Roten Wolf.
Er lächelte versonnen zur Decke hinauf, hatte ihre sanften Gesichtszüge und den schlanken kleinen Körper vor Augen.
Sie war so jung und hatte solch staunende Augen und sah in ihm einen Meister.
Kein anderer dort konnte auf vergleichbare Erfahrungen in der Rebellenbewegung und bei der Besetzung des Studentenhauses zurückblicken, sein Thron war ungefährdet, und obwohl sie, das blutjunge Mädchen, nur ihre Freundin ins Sommerlager begleitet hatte, ohne zu begreifen, worum es in Wirklichkeit ging, ließ sie sich schneller, als er zu hoffen gewagt hatte, von der Sache mitreißen, wurde sie eine Dienerin der Revolution, und sie wurde es seinetwegen.
Karina, die ihn hinter der Kirche von Melderstein küsste, noch heute konnte er sich an den Geschmack ihres Kaugummis erinnern.
Er drehte sich im Bett herum.
Im Segelklub Boje hatten sie revolutionäre Zellen aufgebaut, in denen sie entschieden, wo die einzelnen Leute wohnen und arbeiten sollten. Wohnung in Örnnäset und Nachtschicht im Eisen hüttenwerk. Hinterhaus in Svartöstaden und Arbeit bei der Stadtverwaltung. Sie hatten Streiks organisiert, arbeiteten in der Mietervereinigung und den Gewerkschaften, ganz im Einklang mit den politischen Theorien des Maoismus über die Volksfront und die Volksbewegungen. Doch ihm ging das alles zu langsam, sie diskutierten zu viel, der Verein der Fliegenfischer war voll falscher Autoritäten, die sich vor allem gern selbst reden hörten. Die Popularität der Bewegung brachte einen ganzen Rattenschwanz von Sandkastenrevolutionären mit sich, die nur wegen der Mädchen kamen und um Bier zu trinken.
Weitere Kostenlose Bücher