Der Rote Wolf
würden.
Sie richtete sich auf und ließ den Blick über ihren Werksaal schweifen.
Heute wusste sie, dass man im Großen oder im Kleinen wirken konnte. Sie wusste, dass sie täglich ihren bescheidenen Beitrag leistete, zum einen durch ihre Arbeit mit den Kindern in der Vorschule, der kollektiven Zukunft, für die alle verantwortlich waren, zum anderen aber auch hier, in der Töpferwerkstatt des Gewerkschaftshauses von Pitholm.
Das Arbeiterbildungswerk war von jeher der Auffassung gewesen, dass Menschen, die bisher am wenigsten von den Mitteln der Gesellschaft profitiert hatten, durch Studienangebote, kulturelle Aktivitäten und Erlebnisse dafür entschädigt werden konnten. Für sie war dies ein Stück Gerechtigkeit im Bereich Ausbildung und Kultur.
Der Töpferkurs war für sie eine Übung in Demokratie. Hier wurde vorausgesetzt, dass jeder Mensch die Fähigkeit und den Willen hatte, sich weiterzuentwickeln, etwas zu verändern und Verantwortung zu übernehmen, dass jeder Mensch voller Möglichkeiten war. Und sie sah die Teilnehmer an ihren Kursen mit der Aufgabe wachsen, die Jungen wie die Alten. Wenn sie lernten, mit dem Lehm und der Glasur umzugehen, wurde ihr Selbstvertrauen gestärkt, ihr Verständnis für die Ansichten anderer geweckt und dadurch auch ihre Fähigkeit, aktiv zu beeinflussen, was in der Gesellschaft geschah, in der sie lebten.
Als sie vor ihrer Skulptur stand, musste sie sich dies noch einmal in Erinnerung rufen.
Mit den Fehlern ihrer Jugendzeit hatte sie leben müssen. Nicht ein Tag war vergangen, ohne dass ihr Seelenfrieden von dem Gedanken an die Konsequenzen ihres Tuns gestört worden wäre. Lange blieben diese Störungen klein und oberflächlich, das Leben und die Arbeit bildeten einen schützenden Verband, der sich über ihre Schuld legte. Doch an manchen Tagen konnte sie, gelähmt vor Wut über ihre eigene Schlechtigkeit, das Bett nicht verlassen.
Solche Tage waren mit den Jahren seltener geworden. Dennoch wusste sie, dass die Vergangenheit an ihr nagte, und sie war sich immer bewusst gewesen, dass die Schuld, die sie auf sich geladen hatte, ihr eines Tages das Leben nehmen würde. Dabei dachte sie nicht nur an ihr Übergewicht, an die Essattacken, mit denen sie sich in besonders schweren Stunden tröstete, sondern an die Schuld, die an ihrer Psyche fraß, und an ihre Unfähigkeit, die eigene Unruhe zu bekämpfen. Sie war oft krank, ihr Immunsystem funktionierte sehr schlecht.
Und jetzt war er zurück.
All die Jahre war er ihr in Alpträumen erschienen, hatte sie sich in dunklen Gassen hastig umgedreht, weil sie ihn hinter sich zu spüren meinte, und nun war er wirklich hier.
Sie hatte nicht so heftig reagiert, wie sie immer befürchtet hatte.
Sie hatte nicht geschrien und wurde auch nicht bewusstlos, sondern merkte nur, dass sich ihr Puls beschleunigte und ihr leicht schwindlig wurde. Dann hatte sie sich mit dem gelben Drachen in der Hand auf den Stuhl im Flur fallen lassen. Dieses kindische Signal, mit dem er ihr zu verstehen gab, dass sie sich an ihrem üblichen Treffpunkt versammeln sollten.
Sie wusste, dass er sie aufsuchen würde. Er wollte mehr als nur ein Treffen der Gruppe wie früher. Der gelbe Drache war nur eine Erinnerung, ein Vehikel, die wilden Tiere zu wecken. Sie wusste, dass er sich beim Schwarzen Panther bereits gemeldet hatte, denn der Panther hatte sie zum ersten Mal seit dreißig Jahren angerufen, ihr davon erzählt und sie gefragt, wie sie zur Rückkehr des Drachens stand.
Sie hatte einfach aufgelegt, kein Wort gesagt, nur aufgelegt und das Telefon ausgesteckt.
Man kann niemals entkommen, dachte sie und betrachtete die Skulptur, die nie fertig wurde, das Kind und die Ziege in ihrer ursprünglichen Verständigung, die ohne Worte und Visionen auskam und auf instinktives Verständnis und intuitive Sensibilität gegründet war. Sie konnte ihr keine Gestalt geben, und auch heute Abend würde sie wieder einmal keinen Schritt weiterkommen.
Sie hatte Rückenschmerzen und bewegte sich schwerfällig zu der feuchten Decke, die verhinderte, dass ihre Arbeit austrocknete und rissig wurde, wickelte sie um die Skulptur und spannte sie mit den Riemen fest. Anschließend zog sie ihre Schürze aus, hängte sie zwischen die anderen und ging zum Brennraum, um sich den Lehm von den Händen zu waschen. Danach kontrollierte sie, ob die Schüler ihre Arbeiten auch gut zugedeckt hatten, damit die fertigen Objekte nicht zu schnell trockneten, und sammelte einige übrig
Weitere Kostenlose Bücher