Der Rote Wolf
Der Mann atmete heiß und feucht in ihren Nacken, er war so mager, dass es ihr fast gelungen wäre, die Jacke hinter seinem Rücken zu schließen.
»Kannst du die Füße bewegen? Wir müssen in Bewegung bleiben.«
»So leicht kommen Sie mir nicht davon«, sagte die Kultusministerin, aber Annika schenkte ihr keine Beachtung mehr, sondern konzentrierte sich mit aller Kraft darauf, den Penner in einem makabren und eiskalten Tanz über den Boden zu schleifen.
»Wer bist du?«, fragte Annika Yngve leise. »Der Löwe oder der Tiger?«
»Der Löhöwe d-d-der Freiheiheit«, klapperte der Mann. »Und wo ist der Tiger?«
»Keine Ahnung«, murmelte der Betrunkene, offenbar kurz davor, einzuschlafen.
»Er war klug genug, nicht herzukommen«, meinte Karina Björnlund. »Er war immer der Schlaueste von uns.«
Plötzlich bewegte sich Göran Nilsson an der Wand, versuchte sich aufzurappeln, trat mit dem gesunden Bein um sich, hatte die Augen weit aufgerissen und wollte seinen Mantel ausziehen.
»C'est tres chaud«,
sagte er und legte sich wieder hin.
»Ziehen Sie sich wieder an«, sagte Annika und versuchte zu ihm zu gehen, aber der Alkoholiker hielt ihre Taille umklammert und ließ sie nicht los.
»Hören Sie, Göran, ziehen Sie den Mantel wieder an.«
Doch der Mann sank unter dem Mao-Plakat zusammen, und seine Beine zuckten ein paar Mal krampfartig. Dann rührten sie sich nicht mehr, und er schlief ein.
Sein Brustkorb bewegte sich leicht und flatternd unter einem elfenbeinfarbenen Leinenhemd.
»Sie müssen ihm helfen«, sagte Annika zu Karina Björnlund. »Ziehen Sie ihm wenigstens den Mantel wieder an.«
Die Frau schüttelte den Kopf, und im nächsten Moment erlosch die Kerze.
»Zünden Sie sie wieder an«, sagte Annika und hörte selbst die Angst in ihrer Stimme.
»Sie ist heruntergebrannt«, erklärte Karina Björnlund. »Es gibt keinen Docht mehr.«
Mit der Dunkelheit kam die Stille, und die Kälte wurde beißender und trockener.
Annika riss die Augen auf und sah absolut nichts, sie schwebte in einem leeren und eiskalten Raum, fühlte sich unendlich einsam und wusste, dass nichts in der Welt schlimmer sein konnte. Alles war ihr lieber als Isolierung.
»Wir müssen uns bewegen«, sagte Annika. »Karina, Sie dürfen nicht stillstehen.«
Aber Annika hörte, dass die Ministerin zu Boden gesunken war und in ihrer Ecke erstickt weinte.
Die Frau heulte und wimmerte, und Annika und Yngve bewegten sich immer langsamer in der eiskalten Gefriertruhe. Sie hielt den zitternden Mann in ihren Armen, spürte, dass seine Glieder immer schwerer wurden und sein Atem immer stockender ging. Ihr Griff wurde steifer, ihre Arme erlahmten.
Verantwortung für andere übernehmen, dachte sie und starrte in die Dunkelheit hinein. Nichts ohneeinander tun.
Ellens und Kalles weiche Gesichter tauchten vor ihr auf, sie spürte ihre samtene Wärme und die süßen Düfte.
Bald, dachte sie, bald bin ich wieder bei euch.
Dann beruhigte sich die Kultusministerin und schluchzte nicht mehr.
Die Stille, die daraufhin eintrat, war noch tiefer als bisher, aber es dauerte eine Weile, bis Annika den Grund dafür erkannte. Göran Nilsson atmete nicht mehr.
Die Erkenntnis ließ Panik in ihr aufsteigen. In der nächsten Sekunde sackte Yngve in ihren Armen zusammen, seine Beine gaben unter ihm nach, und sein Kopf fiel auf ihre Schulter.
»Verdammt!«, schrie Annika in sein Ohr. »Stirb mir jetzt nicht. Hilfe, wir brauchen Hilfe!«
Aber sie hatte einfach nicht die Kraft, den Mann auf den Beinen zu halten. Er sank zu ihren Füßen auf die Erde, und sie hatte einen totalen Blackout.
»Hilfe!«, schrie sie gellend. »So hilf uns doch jemand.«
»Es gibt keine Hilfe«, sagte Karina Björnlund.
»Hilfe!«, brüllte Annika und tastete sich in die Richtung voran, in der sie die Tür vermutete, trat gegen den Kompressor und schlug sich das Knie auf. »Hilfe!«
Irgendwo hinter sich hörte sie diffuse Stimmen und fürchtete einen Moment lang, Besuch von neuen Engeln bekommen zu haben. Es wurde gesprochen und gerufen, nein, das waren eindeutig menschliche Stimmen, und in der nächsten Sekunde hörte man ein lautes Klopfen.
»Hallo?«, rief eine Männerstimme von draußen. »Ist da jemand?«
Sie drehte sich um und starrte in der Dunkelheit zu der Stelle, von der die Stimme gekommen war.
»Ja!«, schrie sie und stolperte über Yngve. »Ja! Wir sind hier drinnen, wir sind eingeschlossen. Helfen Sie uns.«
»Wir müssen ein Vorhängeschloss
Weitere Kostenlose Bücher