Der Rote Wolf
erstaunten Ungläubigkeit, der Un fassbarkeit des Todes. Fahrige Hände, Blicke, die unerschütterlich auf den Fußboden gerichtet waren oder unruhig umherflackerten, jeder hier war eine Insel.
Reporter und mehrere Fotografen standen ebenso wie Vertreter anderer Medien an den Wänden. Annika erkannte sie an ihrer gierigen Sensationslust; ihnen war der Tote egal, sie interessierten sich nur für den Mann, der gerade sprach, und die trauernden Arbeitskameraden.
»Benny gehörte zu einem Typ von Journalisten, wie es sie heute kaum mehr gibt«, predigte der Mann mit den glänzenden Schuhen. »Er war ein Reporter, der niemals aufgab, er wollte die Wahrheit finden, um jeden Preis. Wir, denen es vergönnt war, in all den Jahren mit Benny zusammenarbeiten zu dürfen, haben es als großes Geschenk empfunden, einen solch hingebungs- und verantwortungsvollen Journalisten kennen zu lernen. Für Benny Ekland gab es das Wort Überstunden nicht, denn er nahm seinen Auftrag ernst …«
»Ja«, flüsterte ihr jemand ins Ohr, »jetzt kommen wir der Wahrheit allmählich näher.«
Sie drehte sich rasch um und sah Hans Blomberg, den Archivar, der direkt hinter ihr stand, ihr zunickte und schwach lächelte. Er lehnte sich vor und ergänzte flüsternd:
»Benny war bei der Geschäftsführung ausgesprochen beliebt, weil er nie Wochenendzuschläge oder Gehaltserhöhungen einforderte. Dadurch gab er der Zeitungsspitze ein unschlagbares Argument an die Hand: Wenn schon der Starreporter so schlecht verdiente, war es nur recht und billig, dass alle anderen auch nicht mehr kriegten.«
Annika lauschte verblüfft.
»Er hat Ihnen den Schnitt versaut«, flüsterte sie zurück. »Aber warum denn?«
»Fünf Wochen bezahlter Urlaub bei den Huren in Thailand, jedes Jahr, und immer einen Deckel in der örtlichen Kneipe. Was braucht ein Mann mehr?«
Zwei ältere Frauen vor ihnen mit identischen Strickpullovern und verquollenen Augen drehten sich um und zischten Ruhe gebietend.
Die Trauerfeier wurde mit einer Schweigeminute für den Toten beendet, die Blitzlichter der Fotografen kreuzten einander.
»Wo hatte Benny seinen Arbeitsplatz?«, flüsterte sie dem Archivar zu.
»Kommen Sie«, sagte er und zog sie nach hinten.
Sie verließen das graue, luftleere Meer, gingen eine weitere Treppe hinauf und landeten unter dem Dachgiebel.
»Abgesehen vom Chefredakteur war er einer der wenigen, die ein eigenes Büro hatten«, sagte Hans Blomberg und zeigte in einen kurzen Korridor.
Annika betrat den schmalen Gang, spürte, wie die Wände augenblicklich näher kamen und sich über sie beugten. Sie blieb stehen, atmete ruhig und vorsichtig, sah die Wände, wie sie tatsächlich waren.
Die übermalten Hartfaserplatten beulten sich braungelb und hässlich.
Sie ging zu Benny Eklands braun gestrichener Tür und klopfte fest an. Zu ihrer Verblüffung flog sie augenblicklich sperrangelweit auf.
»Was gibt's?«, sagte ein Kriminalpolizist in Zivilkleidung, der im Zimmer auf den Knien lag. Er blies sich die Haare aus den Augen und musterte Annika gereizt von Kopf bis Fuß.
Hinter ihm hoben zwei weitere Kriminalpolizisten die Köpfe aus Schränken und Schubladen. Annika trat einen Schritt zurück und spürte, dass sie bis zum Haaransatz rot wurde.
»Verzeihung«, sagte sie, »ich suche … ich wollte wissen …«
»Das hier ist Benny Eklands Büro«, sagte der Beamte in Zivil und ergänzte freundlicher: »Sie sind doch Annika Bengtzon. Sie haben doch damals mit dieser Mörderin im Tunnel gesessen.«
Sie starrte ihn an und wollte fliehen, nickte jedoch stattdessen und hörte die Engel in ihrem Innern ein Lied anstimmen. Nein, dachte sie. Nicht jetzt.
»Suup hat angerufen und gesagt, dass er Sie hier treffen will, aber er ist noch nicht da. Mein Name ist Forsberg«, sagte er, richtete sich auf, streckte die Hand aus und lächelte ein wenig wölfisch hinter blonden Locken.
Annika sah verwirrt zu Boden und entdeckte verlegen, dass ihre Hände kalt und feucht waren.
»Wie geht's?«, sagte sie, um etwas sagen zu können, und schlug sich mit der flachen Hand leicht gegen den Kopf, um die Stimmen zum Verstummen zu bringen.
»Suup hat erzählt, dass Sie den jungen Gustafsson ausfindig gemacht haben«, meinte der blonde Forsberg, während er gleichzeitig einen Stapel Blätter in ein Regal zurücklegte.
»Das war keine große Leistung«, sagte Annika. »Er wollte erzählen, und ich habe zufällig die Fragen gestellt. Finden Sie was?« Der Polizist seufzte. »Es ist
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