Der Rote Wolf
und Wochenenden, Weihnachtstage und Geburtstage.
Sie hatte sich an die Abmachung gehalten und nie ernsthaft einen anderen Mann in ihr Leben gelassen. Und dann ging er einfach hin und zog mit einer Monogamen zusammen, einer radikalen Braut vom staatlichen Fernsehen, die an Zweisamkeit und echte Liebe glaubte.
Wenn die Neue wenigstens anders wäre als ich, dachte Anne benebelt. Wenn sie klein und hübsch und blond und süß und harmlos wäre. Wenn er sich wegen etwas für eine andere Frau entschieden hätte, was ich nicht habe, was mir abgeht. Aber diese Frau war der gleiche Typ wie sie, sah ihr ähnlich und hatte sogar ungefähr den gleichen Job. Dadurch fühlte sie sich doppelt betrogen.
Rein äußerlich betrachtet, hatte er an ihr also nichts auszusetzen gehabt, sondern an ihr als Mensch, an ihrer Lebenseinstellung, ihrer Ergebenheit und Loyalität.
Tränen des Selbstmitleids stiegen ihr in die Augen, aber sie zwang sie brutal zurück.
Das war er nicht wert.
Annika biss die Zähne so fest zusammen, dass ihre Kiefer schmerzten.
Sie hatte nicht die Absicht zu flennen, nicht wegen einer verdammten Idiotenentscheidung am Nachtdesk. Aber sie kam sich vor, als wäre sie wieder eine Aushilfe wie früher, nur dass es jetzt schlimmer war. Damals, vor etwas mehr als neun Jahren, hatte sie die Zusammenhänge nicht verstanden und Fehleinschätzungen und Übergriffe durch die Leitung der Zeitung deshalb mit dem Argument entschuldigen können, dass sie selbst die tiefer liegenden Gründe für die Entscheidung nicht begreifen konnte. Es gab einen höheren Sinn, der ihr verborgen blieb, aber wenn sie nur immer gut zuhörte, würde sie das alles früher oder später verstehen. Sie hatte Wert darauf gelegt, offen und lernwillig zu sein, nicht selbstzufrieden, unbedarft und ständig kritisierend wie so viele andere frisch nach dem Examen.
Jetzt beherrschte sie ihren Job, und gerade deshalb war sie vor Ohnmacht wie gelähmt.
Manchmal kam es ihr vor, als ginge es nur noch um Geld.
Wenn es ebenso lukrativ gewesen wäre, mit Kinderwindeln zu handeln, hätte die Eignerfamilie sich vermutlich stattdessen darauf verlegt.
An anderen Tagen kam sie besser mit der Situation zurecht und konnte die Zusammenhänge so sehen, wie man es ihr beigebracht hatte. Die Kommerzialisierung garantierte Meinungsfreiheit und Demokratie, die Zeitung wurde im Auftrag der Leser produziert, die Einnahmen dienten dazu, die Existenz des Blattes zu sichern.
Sie lockerte den verkrampften Griff um das Lenkrad und zwang sich, entspannter zu werden. F21 verschwand hinter ihr, und sie bog auf die lange Gerade, die zur Landstraße führte. Sie wählte die Kurzwahlnummer der Polizei, aber bei Kommissar Suup war besetzt, und es warteten bereits mehrere Anrufer darauf, mit ihm verbunden zu werden.
Es spielt überhaupt keine Rolle, wie gut ich bin, dachte Annika. Sie schaffte es einfach nicht, ihre Verbitterung zu verdrängen, und ehe sie es verhindern konnte, mündete dieser Gedanke in einen weiteren Satz: Die Wahrheit ist nicht interessant, nur die Schimäre, die aus ihr entstehen kann, interessiert die Leute.
Um nicht in Selbstmitleid zu versinken und nicht aus der Leitung geworfen zu werden, begann sie eine vollkommen sinnlose Fragestunde zur Organisationsstruktur der Polizei mit der armen Telefonistin, die immer gestresster wurde. Der Trick bestand darin, die Telefonistin so lange zu beschäftigen, bis sie in die Warteschleife geschaltet werden konnte.
"Jetzt können Sie warten, bis die Leitung frei wird«, sagte die Telefonistin erleichtert, als Suup eines seiner Gespräche beendet hatte.
Sie wurde mit einer stummen digitalen Leere verbunden, worüber sie heilfroh war, denn ein elektronisches
Für Elise
hätte sie jetzt nicht ertragen können.
Sie hatte bereits den Kreisverkehr in Bergnäset hinter sich gelassen, als es im Hörer klickte und sie endlich an der Reihe war.
»Ich muss wohl einen Diener machen und danke schön sagen«, meinte Kommissar Suup. »Linus Gustafssons Mutter rief uns heute Morgen um sieben an und erzählte, dass ihr Sohn der geheime Zeuge in der
Norrlands-Tidningen
von heute ist. Seine Mutter meinte, Sie hätten den Jungen ermahnt, über das, was er gesehen hat, mit der Polizei und einem Erwachsenen zu sprechen. Sie war darüber sehr froh. Der Junge sei seit Sonntagnacht nicht mehr er selbst gewesen, habe schlecht geschlafen und gegessen, nicht in die Schule gehen wollen …«
Vorsichtig breitete sich so etwas wie Ruhe in ihr
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