Der Rote Wolf
sein.
»Bitte?«, sagte Annika und konnte nicht länger warten, stieß die Tür auf und taumelte hinaus.
Sie ging zum anderen Ende der beinahe menschenleeren Sportredaktion, in der ein einsamer Redakteur erschreckt hinter seinem Computerbildschirm hervorlugte. »Hallo«, sagte Annika.
»Hallo«, erwiderte der Mann und tauchte wieder ab. »Ermordet?«, flüsterte Pekkari ihr ins Ohr. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«
»Ganz und gar nicht. Ich schreibe den Artikel, Sie dürfen ihn komplett veröffentlichen, aber nicht an die Nachrichtenagenturen weitergeben. Genauso machen wir es.«
»Warum wollen Sie eine solche Story abgeben?« »Kollegiale Verantwortung«, antwortete Annika und konzentrierte sich darauf, ihre Pulsfrequenz zu senken.
»Außerdem überschneiden sich unsere Leserschaften kaum. Wir sind keine Konkurrenten, wir ergänzen einander.«
»Ich setze meinen Abendreporter auf die Sache an«, sagte der Redakteur.
»Nein«, widersprach Annika. »Mein Bildeinschlag. Es ist meine Story, mein Name, aber Sie bekommen sie.« Er sah sie nachdenklich an. »Eins zu null für Sie«, sagte er.
»Ich weiß«, erwiderte Annika und ging zu ihrem Notebook zurück.
DONNERSTAG, 12. NOVEMBER
Anne Snapphane erwachte mit dumpfen Kopfschmerzen und einem weißen Licht in den Augen. Ihr Mund war voller Katzendreck, und irgendwo unter ihrem Bett war es verdammt laut. Nach einer langen Leitung mit vielen Fehlschaltungen begriff ihr Gehirn, dass es sich um ein klingelndes Telefon handelte. Ihre Hand tastete blind neben dem Bett herum, und es gelang ihr, die Telefonschnur zu erhaschen und den Hörer stöhnend an die Lippen zu führen.
»Hast du schon einen Blick in die Zeitung geworfen?«, sagte Annika am anderen Ende. »Das kann doch verdammt noch mal nicht wahr sein. Wenn die Abzahlungen für die Wohnung nicht wären, würde ich heute noch kündigen.
Oder besser noch gestern.«
»Was?«, sagte Anne krächzend.
»Paula aus der Popfabrik – zu Oralsex gezwungen«, las Annika mit eigenartig hallender Stimme.
Anne Snapphane versuchte sich aufzusetzen. »Wer?«
»Ich weiß nicht, ob das alles noch einen Sinn hat«, sagte Annika. »Ich bin auf einen Journalistenmord gestoßen, bei dem möglicherweise Terrorismus eine Rolle spielt, wir haben die Geschichte exklusiv, und was passiert? Sowohl in den Rundfunk- als auch in den Fernsehnachrichten war Benny Ekland die Topnews mit Berufung auf uns als Quelle, und was zum Teufel bringen wir selbst auf der Titelseite? Verdammten Sex!«
Anne gab auf, landete wieder in den Kissen und legte den Arm über die Augen.
Ihr Herz donnerte wie ein Eisenhammer und ließ
ganzen Körper schwitzen. Eine unbestimmte Angst drehte ihr den Magen um.
Die letzten Drinks hätte ich wohl nicht mehr nehmen sollen, dachte sie vage.
»Anne?«
Sie räusperte sich. »Wie viel Uhr ist es?«
»Fast zehn. Und dann bin ich wieder zu diesem verdammten Museum auf dem Fliegerhorst rausgefahren, aber meinst du, der Typ, der sich darum kümmert, wäre endlich wieder gesund gewesen? Vergiss es, und jetzt sitze ich hier wie der letzte Depp.«
Anne versuchte nicht mehr zu begreifen, was geschehen war, sie erkannte nur, dass sie einmal mehr die Kontrolle verloren hatte.
»Das tut mir wirklich Leid«, pflichtete sie Annika bei.
»Kommst du heute Abend?«
Anne strich sich mehrmals über die Stirn und versuchte sich zu erinnern, was sie ausgemacht hatten, aber es wollte ihr einfach nicht gelingen.
»Können wir später noch mal telefonieren? Ich war gerade dabei …«
»Ich werde gegen fünf wieder zu Hause sein.«
Anne ließ den Hörer mit seinem toten Summton zu Boden fallen. Vorsichtig öffnete sie die Augen und zwang sich, den leeren Platz neben sich zu sehen.
Er war nicht da. Nicht mehr.
Sie schaute zur Decke und dann zu den Fenstern auf der anderen Seite und erinnerte sich an seinen Geruch, sein Lachen und seine wütenden Falten.
Als sie erkannte, dass er nicht mehr bei ihr sein würde, war sie steif, stumm und kalt zurückgeblieben.
Sie hatten einen Deal, eine Übereinkunft gehabt. Gemeinsam hatten sie ein wunderbares Kind, ein geteiltes Leben, die perfekte Aufteilung von Freiheit und Verantwortung. Sie hatten Miranda und einander, besaßen den anderen jedoch nicht. Es sollte keine Schuldgefühle, keine Forderungen, nur Rücksichtnahme und Fürsorglichkeit zwischen ihnen geben. Jeder hatte seine eigene Wohnung, jeder seine Woche mit der Tochter, aber es blieben ihnen auch viele gemeinsame Abende
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