Der Rote Wolf
eben ging, die Vorhänge zu. Der Kaffeeautomat musste kaputt sein, denn das Gebräu war gerade mal lauwarm.
Den bitteren Geschmack auf der Zunge empfand sie als persönliche Beleidigung, ihre Wangen röteten sich. Sie hatte nicht die Energie, zurückzugehen und den Kaffee wegzukippen, und überließ ihn stattdessen auf einer Ecke ihres Schreibtischs seinem Schicksal.
Relativ mühelos schrieb sie einen schnörkellosen Artikel über den Bombenanschlag auf F21, nannte bislang bekannte Fakten, die neuen Informationen der Polizei über den möglichen Täter, den mutmaßlichen Terroristen, der auf den Namen Ragnwald hörte, und seinen kleinwüchsigen Komplizen.
Missmutig las sie ihren Text durch und sehnte sich nach Koffein. Die Geschichte war dünn, das ließ sich nicht leugnen. Schyman wollte Fakten, keine poetische Beschreibung einer Zeit, die es früher einmal gegeben hatte, und eines Mannes, für den vermutlich das Gleiche galt.
Mit bleischweren Gliedern stand sie auf, um einen funktionierenden Kaffeeautomaten zu finden, als ihr Telefon klingelte. Das Display zeigte ihr an, dass es Thomas war. Sie blieb stehen und zögerte kurz, nahm dann aber doch ab.
»Ich komme heute Abend später nach Hause«, sagte er. Es waren die üblichen Worte, die sie schon erwartet hatte, aber sie kamen gepresst, nicht so beiläufig wie sonst.
»Warum?«, fragte sie und stierte blind vor sich hin.
»Die Projektgruppe muss sich treffen«, sagte er, die alte Leier. »Oder zumindest ihr Kern. Ich weiß, dass ich an der Reihe bin, die Kinder abzuholen, aber könntest du das vielleicht ausnahmsweise übernehmen?«
Sie setzte sich, legte die Füße auf den Schreibtisch und betrachtete durch den Spalt zwischen den Vorhängen den stumpfen Fußboden der Redaktion.
»Klar«, sagte sie, »das lässt sich machen. Ist was passiert?«
Seine Antwort kam einen Moment zu spät und zu laut.
»Nein, überhaupt nicht«, meinte er. »Wie kommst du darauf?«
Sie lauschte in die Stille hinein, die seine Worte hinterließen.
»Erzähl mir, was passiert ist«, sagte sie leise mit einer Stimme, die aus einem zusammengeschnürten Brustkorb kam.
»Eine Frau hat mich vor einer Stunde angerufen«, sagte er. »Sie und ihr Mann haben im Frühjahr meinen Fragebogen ausgefüllt. Sie sitzen beide für die Zentrumspartei im Gemeinderat, und jetzt ist ihr Mann gestorben. Seitdem habe ich am Telefon gehangen und versucht, alle zusammenzutrommeln …«
Annika lauschte stumm, hörte, wie ihr Mann leicht gepresst atmete.
»Warum hat sie dich angerufen, um dir davon zu erzählen?«
»Wegen des Projekts«, sagte er. »Sie hatten noch die Informationsblätter zur Sicherheit von Politikern in der Öffentlichkeit, die wir verschickt hatten, und auf denen werde ich als Absender genannt. Sie glaubt, dass ihr Mann ermordet wurde.«
Annika ließ die Füße zu Boden fallen.
»Wie kommt sie darauf?«
Thomas seufzte schwer.
»Annika«, sagte er, »ich weiß nicht, ob ich das tun soll.« »Erzähl mir, was passiert ist«, sagte sie in dem Ton, in dem sie sonst mit ihren Kindern sprach, wenn sie hysterisch wurden. Er suchte nach Worten, zögerte. »Ich weiß nicht, ob ich kann«, sagte er.
»Wenn wirklich etwas passiert ist, finde ich es sowieso heraus.« Er seufzte erneut.
»Okay. Ihr Mann ist an einem Kopfschuss aus seiner Landwehrwaffe gestorben.
Er saß in einem Sessel, und das ist es, was der Frau so seltsam vorkommt, denn es war ihr Sessel. Er hat anscheinend sonst nie darin gesessen. Wenn er vorgehabt hätte, sich zu erschießen, hätte er es ihr zufolge in seinem eigenen Sessel getan.«
Annika griff nach einem Stift.
»Wo wohnt sie?«
»Glaubst du, dass er ermordet wurde? Was werden sie jetzt wohl mit unserem Projekt machen? Die Arbeit daran stoppen? Meinst du, sie werden glauben, wir hätten in irgendeiner Form dazu beigetragen …«
»Wo wohnt die Frau?«
Er verstummte und reagierte überrascht und mürrisch. »Wieso?«
Sie biss auf den Stift, zögerte und klopfte damit gegen die Rückseite der Schneidezähne.
»Du klingst, ehrlich gesagt, ein wenig kindisch«, sagte sie. »Ein Mann ist tot, und du machst dir Sorgen um deinen Job.«
Seine Antwort kam blitzschnell.
»Und was machst du bei jedem Mord? Das Einzige, worüber du dich beklagst, sind dein Chef und deine miesepetrigen Kollegen.«
Sie ließ den Stift zur Ruhe kommen und legte ihn auf den Schreibtisch. Im linken Ohr hörte sie ein leises Tuten, sodass sie fast schon dachte, er hätte aufgelegt,
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