Der Rote Wolf
Svartbäcksgatan hinab, spürte, wie das Dröhnen abebbte. Das Atmen fiel ihm schon wieder leichter. Sacht wurde alles um ihn herum still, er hatte keine besonderen Erinnerungen an diesen Ort inmitten des allmählich anlaufenden Weihnachtsgeschäfts. Ende der sechziger Jahre hatte es hier wahrscheinlich ganz anders ausgesehen. Er streckte sich ein wenig, ließ die Hand vom Ohr sinken, nahm die Wirklichkeit in all ihrer Verlogenheit wahr und öffnete seine Sinne für eine andere Kakophonie, die verlogenen Gesänge der marktschreierischen Schaufenster. Sie lockten und riefen ihn, halb nackte Plastikfrauen ohne Köpfe, lärmende, batteriebetriebene Spielzeuge
Made in China,
blinkende Lichterketten über Bademänteln und Seidenschlipsen, Elektrowerkzeuge mit Akku zum Arbeiten und Laden, Arbeiten und Laden.
Er sah hoch, um zu entfliehen, und verlor sich im Anblick von Girlanden, die über die ganze Straße hinweg zu einer Tannenbaumimitation aus grünem Plastik mit goldfarbener Beleuchtung führten. Daraufhin wandte er sich nach rechts, überquerte den Fluss, erreichte das Universitätsgelände. Linker Hand lag das Schloss und ganz oben, am Ende des Anstiegs, die Universitätsbibliothek, Carolina Rediviva, mit ihrem unfassbaren Schatz, dem Codex Argenteus, der Silberbibel.
Er blieb stehen und atmete tief durch. Wie ein Wasserfall rauschten in der Ferne die Geräusche des Konsumwahnsinns.
Heute war es wirklich bitterkalt, er konnte sich kaum noch an so hart gefrorene Erde erinnern, und er staunte darüber, wie die stillstehende Eismeerluft die Farben und das Licht verstärkte, die Wahrnehmungen schärfer und klarer werden ließ. Dann starrte er zu den beiden Türmen des Doms hinauf, die schwer und voller Schatten zum durchsichtigen Himmel aufstrebten. Er schloss die Augen, es war lange her, so lange her, dass er fast vergessen hatte, wie es war, diese Glasluft einzuatmen, die es nur in Uppsala gab. Sie schien von seinem Inneren Besitz zu ergreifen, ließ seine Luftröhre und seine Fußsohlen zu Eis gefrieren.
Mit schweren Schritten ging er weiter, blieb unter dem protzigen Hauptgebäude der Universität aus Back- und Kalksandstein stehen, schaute die langen Treppen hinauf und musterte die vier Statuen oberhalb des Portals, welche die vier Fakultäten symbolisierten, die es zum Zeitpunkt der Einweihung des Gebäudes gegeben hatte: Theologische, Juristische, Medizinische und Philosophische Fakultät. Sein Blick kehrte zur ersten Statue zurück, der Frau mit dem Kreuz.
Seine Fakultät.
Du hast mich betrogen, dachte er. Du hättest ein Lebenswerk werden sollen und wurdest zu einer Lebensverhinderin.
Er stieg die Treppen hinauf, den Blick auf die drei schweren Eichentüren mit ihren monströsen Eisenklinken gerichtet. Gut geölte Scharniere ließen die Türen überraschend leicht aufschwenken. Er betrat die Eingangshalle. Vor ihm öffnete sich der kathedralenartige Raum mit seinen drei mächtigen Kuppelgewölben.
Die Schritte hallten auf dem Mosaikfußboden, das Echo schlug gegen glänzende Granitpfeiler, Stukkaturen und Deckengemälde und ging die Treppenstufen zur Aula hinauf, wo es sich hinter den klugen, in Gold gefassten Worten des Humanisten Thorild verlor:
Frei zu denken ist groß, doch richtig zu denken ist größer.
Die Freiheit, dachte er, die Tyrannei unserer Zeit. Der Verrat am Menschen des Mittelalters, der noch in Unschuld lebte, an seinem unveränderlichen und angestammten Platz in der Gesellschaft, ein Leben mit einem festgelegten Inhalt, das weder Grund noch Anlass zu Zweifeln bot. Der die Erlösung der Seele über alles andere stellte: über wirtschaftlichen Gewinn, persönliche Freiheit, das Verändern gesellschaftlicher Strukturen.
Er kehrte dem Raum den Rücken zu. Seine Wut über die Renaissance brachte ihn fast zum Heulen. Evas Verrat an Adam, die Hure, die den Menschen dazu verführte, den Apfel vom Baum der Erkenntnis zu pflücken, die Unschuld wurde vergewaltigt. Der blendende Sonnenaufgang der Gier, der sich über Jahrhunderte fortsetzte mit dem Streben nach Gewinn und der Ehrsucht, die die Beziehungen der Menschen zueinander vergiftete. Bis schließlich Luther kam, der gefallene Engel, der Gefängniswächter, der das letzte Glied in der rasselnden Fußfessel der Arbeiterklasse schmiedete. Sklaverei, Mensch, sei dein Los, unterjocht von Kapital, Genuss und Freiheit.
Hastig verließ er die akademisch-stickige Atmosphäre, ging hinaus und nach rechts und landete vor einem ihm seltsam bekannt
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