Der Rote Wolf
als er plötzlich weitersprach.
»In der Nähe von Östhammar«, sagte er, »in einem Dorf im nördlichen Uppland.
Es sind Bauern. Ich weiß nicht, wie spät es wird, das kommt ganz darauf an, wie wir die Aufgaben verteilen, und natürlich auch darauf, was die Ermittlungen der Polizei ergeben.«
Sie beschloss, seine Beleidigung zu ignorieren.
»Hast du mit den ermittelnden Beamten gesprochen?«
»Sie schätzen den Todesfall vorläufig als Selbstmord ein, aber nach der Aussage seiner Frau werden sie den Fall dennoch näher untersuchen.«
Annika legte die Füße wieder auf den Schreibtisch.
»Auch wenn der Mann ermordet worden ist«, sagte sie, »heißt das noch lange nicht, dass er in seiner Eigenschaft als Politiker erschossen wurde, verstehst du?
Er könnte Schulden haben, Alkoholprobleme, verschmähte Kinder oder geisteskranke Nachbarn oder Gott weiß was.«
»Sicher«, sagte Thomas kurz angebunden. »Warte heute Abend nicht auf mich.«
»Ach, übrigens«, sagte Annika zu den Vorhängen, »wie heißt sie?«
Es entstand eine kurze Pause. »Wer?«
»Na, die Frau, die Ehefrau, die dich angerufen hat?« »Ich will nicht, dass du dich in die Sache einmischst.« Eine Zeit lang maßen sie schweigend ihre Kräfte, dann kapitulierte Annika.
»Dein Job ist nicht in Gefahr«, sagte sie. »Im Gegenteil. Wenn der Mann ermordet wurde, wird euer Auftrag doch nur noch wichtiger. Wenn hier jemand Ärger bekommt, dann die Politiker, sie hätten euch schon viel früher an dem Problem arbeiten lassen sollen. Ihr könnt durch eure Arbeit hoffentlich verhindern, dass so etwas noch mal passiert.«
»Meinst du?«
»Ihr seid diesmal nicht die Buhmänner, glaub mir. Obwohl es vielleicht nicht verkehrt wäre, wenn ich den Artikel schreiben würde.«
Thomas schwieg ein paar Sekunden, Annika hörte ihn atmen. »Gunnel Sandström«, sagte er schließlich. »Der Mann hieß Kurt.«
Thomas legte den Hörer auf. Er hatte Schweißperlen auf der Stirn, beinahe hätte er sich verplappert.
Als Annika ihn fragte, wie »sie« heiße, hatte er Sophia Grenborg vor Augen gehabt, ihre glänzenden Haare und die fröhlichen Augen. Das Geräusch ihrer klappernden Absätze klingelte ihm in den Ohren, ihr Parfüm hing im Raum.
Das war knapp, dachte er verwirrt. Was war eigentlich los? Es war etwas geschehen, und ein Prozess war ins Rollen gekommen, von dem er nicht wusste, ob er ihm gewachsen sein würde, den er aber dennoch nicht stoppen wollte.
Sophia Grenborg mit einer Wohnung auf Östermalm in einer Immobilie der Familie. Seiner Mutter würde sie gefallen, schoss es ihm durch den Kopf. Sie erinnerte ein wenig an Eleonor. Nicht äußerlich, Eleonor war groß und drahtig, Sophia war klein und niedlich, aber sie hatten etwas anderes gemeinsam, eine Haltung, eine Seriosität, etwas zutiefst Attraktives, das Annika fehlte. Eine Frau, die gut in möblierte Zimmer passt, so war Eleonor einmal von Annika charakterisiert worden, und an dieser Beschreibung war durchaus etwas dran.
Eleonor und Sophia bewegten sich unverkrampft in Behördenkorridoren und Konferenzräumen, elegant eingerichteten Salons und internationalen Hotelbars.
Annika eckte an solchen Orten nur an, ihre Kleider hingen nur noch schiefer als sonst, und sie sah stets aus, als wäre ihr nicht ganz wohl in ihrer Haut. Wenn sie verreisten, wollte sie sich nur mit der örtlichen Bevölkerung unterhalten und in elenden Spelunken essen und interessierte sich nicht im Geringsten für historische Gebäude oder private Hotelpools.
Er räusperte sich, hob dann den Hörer ab und wählte Sophia Grenborgs Durchwahl beim Landtagsverband.
»Geht in Ordnung«, sagte er. »Ich komme nach der Sitzung gern noch mit in den Jazzclub.«
Annika bekam einen Wagen von der Zeitung, dessen Reifen Spikes hatten, denn auf den Nebenstraßen im nördlichen Uppland konnte es glatt sein. Das Radio war auf einen privaten Sender eingestellt, und solange keine Werbung kam, sah sie keinen Grund, einen anderen zu suchen.
In der ersten Viertelstunde kam sie auf der völlig verstopften Stadtautobahn ganze 700 Meter weit und wechselte genervt von der adrenalinpumpenden Hitmusik zu P2. Nach den Nachrichten auf Serbokroatisch folgten die Nachrichten auf Arabisch, gefolgt von etwas, das vermutlich die Nachrichten auf Somalisch war. Sie lauschte der Melodie dieser fremden Sprachen, suchte nach Worten, die sie wiedererkennen konnte, und hörte mal einen Ort, mal ein Land oder einen Präsidenten heraus.
Hinter der Abfahrt
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