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Der Rote Wolf

Der Rote Wolf

Titel: Der Rote Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Marklund
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getrunken?«
    Sie schloss einen Moment die Augen und schielte dann zu ihm hinüber.
    »Wieso deinen?«
    Er sah sie erstaunt an.
    »Was ist denn los mit dir? Ich hab dich doch nur gefragt, ob du meinen Wein getrunken hast, ich wollte ihn morgen aufmachen.«
    Sie stand auf.
    »Ich geh jetzt schlafen.«
    »Was ist denn nun schon wieder los?«
    Er breitete auf der Couch die Hände aus, sie kehrte ihm den Rücken zu und ging Richtung Flur.
    »Annika, zum Teufel. Komm her. Ich liebe dich. Setz dich zu mir.«
    Sie blieb im Türrahmen stehen, und er stand auf, kam zu ihr und schlang von hinten die Arme um ihre Schultern. Sie spürte sie schwer auf sich und um sich, eine Hand auf jeder Brust.
    »Annika«, flüsterte er, »komm jetzt. Du hast deinen Wein ja noch gar nicht angerührt.«
    Sie konnte ein tränenersticktes Seufzen nicht unterdrücken.
    »Willst du hören, was ich heute auf der Arbeit gemacht habe?«, fragte er enthusiastisch und führte sie wieder zur Couch, drückte sie hinunter, setzte sich neben sie und zog sie an sich. Ihre Nase landete in seiner Achselhöhle, die nach Männerdeodorant und Seife roch.
    »Was denn?«, murmelte sie an seiner Brust. »Ich habe unser Projekt vor der versammelten Arbeitsgruppe verdammt gut zusammengefasst.«
    Sie blieb still, weil sie dachte, er wollte noch etwas sagen. »Und was war bei dir los?«, fragte er schließlich. »Nichts Besonderes«, flüsterte sie.

SAMSTAG, 14. NOVEMBER
    Der Mann ging zögernd und kurzatmig die Linnegatan zum Fyrisan in Uppsala hinab. Mit der linken Hand stützte er seinen Bauch, die rechte hielt er schützend vor sein Ohr. Sein Gesicht verzog sich zu einer leichten Grimasse, jedoch nicht aufgrund der Schmerzen, sondern wegen der Erinnerungen, die ihn im Zugabteil überkommen hatten. Er war ihnen wehrlos ausgeliefert, sie schwappten über ihn hinweg, donnerten durch ihn hindurch und rauschten wie eine Sturzflut direkt in sein Gehirn, wo sie den Bodensatz aufwühlten, der so lange ruhig dagelegen hatte, dass seine Existenz in Vergessenheit geraten war. Nun war alles wieder gegenwärtig, die Bilder, Gerüche und Töne, die keinen Schaden angerichtet hatten, solange sie ungestört zwischen dem restlichen alten Gerumpel ruhten.
    Jetzt aber lärmten und predigten sie so laut, dass er seine eigenen Gedanken nicht mehr hören konnte.
    Er merkte, dass er zu einem Fenster im ersten Stock neben dem Fjellstedska-Studentenwohnheim hochsah, in dem ein Weihnachtsstern und eine kleine Blume auf dem Fensterbrett zu sehen waren. Sie waren wieder bei ihm, die Mädchen, mit denen er vor dreieinhalb Jahrzehnten dort hinter den Fenstersprossen geschlafen hatte, seine ersten Frauen. Er konnte ihren Bieratem riechen und errötete, als er an seine linkische Schüchternheit dachte.
    Erstaunt war er gewesen, fremd war die Welt ihm erschienen. Er war von ihrer Größe und ihren Möglichkeiten überwältigt gewesen, umso grausamer war seine Enttäuschung dann, als er ihre Begrenzungen erfahren hatte. Es war, als würden ihm eherne Pforten vor der Nase zugeschlagen.
    Die Töne wurden zu einem einsamen Jaulen, und er spürte den eisigen Luftzug am Erdboden und sah die Maus, die ihn an jenem eiskalten Morgen vom Fensterbrett aus angestarrt hatte, von demselben Fensterbrett. Er sah es jetzt in einem anderen Licht, den Raureif auf der Innenseite der Scheibe, den Flickenteppich, den er zur Erinnerung an seine Mutter mitbekommen hatte, den besonders feinen, in den sie sein Kinderröckchen und ihren eigenen abgetragenen Unterrock eingearbeitet hatte.
    »Der kommt aus Kexholm«, hatte sie gesagt und ihn den Stoff des Unterrocks anfassen lassen. Das Leinen war so fein, dass es sich wie samtige Seide anfühlte, denn das Leinen aus Kardien war das beste in der ganzen Welt, und der Stoff raschelte unter seinen Kinderfingern. Da erkannte er, welche Kraft von ihrem alten Land ausging, von Mutters Elternhaus, und er begriff, welch schrecklichen Verlust sie erlitten hatte.
    Er stöhnte auf, das war alles zu schwer, woher sollte er nur die Energie nehmen?
    Der Auftrag. Er hatte noch nie jemanden enttäuscht und hatte nicht die Absicht, ausgerechnet jetzt damit anzufangen, da es um seine eigene Familie ging, die einzige, die ihm geblieben war.
    Er kehrte dem Studentenwohnheim den Rücken zu, behielt das Fenster aus den Augenwinkeln so lange wie möglich im Blick, ließ es dann weggleiten. Nie mehr würde er zu diesem Fenster zurückkehren.
    Dann machte er einige stolpernde Schritte die

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