Der Rote Wolf

worden?«
    Nun schüttelte sie den Kopf und sank noch mehr in sich zusammen.
    »Keine seltsamen Anrufe außer dem vom Freitag, keine merkwürdigen Briefe?«
    Die Frau erstarrte und dachte nach.
    »Heute ist ein komischer Brief gekommen«, sagte sie. »Völliger Nonsens, ich habe ihn in den Müll geworfen.«
    »Ein Brief? Heute? Von wem?«
    »Keine Ahnung, es stand kein Absender drauf.«
    »Haben Sie den Müllbeutel schon rausgebracht?«
    Gunnel Sandström dachte ein paar Sekunden nach.
    »Ich glaube nicht«, antwortete sie dann, stand auf und ging zum Unterschrank der Spüle, öffnete den Abfalleimer, wühlte zwischen Brotresten und Kartoffelschalen und sah zu Annika auf.
    »Hier ist er nicht«, sagte sie. »Ich muss den Beutel doch schon weggebracht haben.«
    »Haben Sie den Brief vielleicht woanders hingeworfen?«, fragte Annika.
    Die Frau stellte den Mülleimer zurück.
    »Warum glauben Sie, dass er wichtig war?«, fragte sie.
    »Ich habe keine Ahnung, ob er wichtig war«, sagte Annika. »Was stand denn drin?«
    »Etwas über die Bauernbewegung, ich weiß nicht mehr. Ich dachte, es wäre etwas über den Bauernverband.«
    »Eine Postwurfsendung, ein Faltblatt?«
    »Nein, ganz und gar nicht. Der Brief war handgeschrieben.«
    »Denken Sie nach. Könnten Sie ihn nicht doch woanders hingeworfen haben?«
    »Wenn überhaupt, dann in den Kamin«, sagte Gunnel Sandström.
    Mit zwei Schritten war Annika bei der Feuerstelle, in der einige zerknüllte Papierbälle lagen. Zwei davon waren bunte Reklamezettel örtlicher Geschäfte.
    Sie nahm ein Holzscheit aus dem Korb am Kamin und schob die Papierbälle hin und her.
    Die Frau trat zu Annika und streckte die Hand nach ihnen aus.
    »Ja, das wäre gut möglich, hier werfe ich manchmal Papier hin. Zum Anzünden.«
    »Warten Sie«, sagte Annika. »Haben Sie ein Paar Handschuhe?«
    Gunnel Sandström hielt inne, sah Annika verblüfft an und verschwand dann im Flur. Annika lehnte sich vor und musterte die Bälle. Drei bestanden aus glattem Reklamepapier, einer war grün mit schwarzer Schrift, der fünfte hatte liniertes Collegeblock-Papier.
    »Nehmen Sie den da«, sagte Annika, als die Frau mit ledernen Fingerhandschuhen zurückkehrte, und zeigte auf den linierten.
    Gunnel Sandström lehnte sich vor und bekam mit einem Stöhnen das Papier zu fassen. Sie richtete sich wieder auf und faltete es auseinander.
    »Ja, das ist er«, sagte sie.
    Annika stellte sich neben sie, als sie langsam den anonymen Inhalt vorlas.
    »Der gegenwärtige Aufschwung der Bauernbewegung ist ein gewaltiges Ereignis«
, las Gunnel mit matter und skeptischer Stimme.
»Es dauert nur noch eine sehr kurze Zeit, und in allen Provinzen Mittel-, Süd- und Nordchinas werden sich Hunderte Millionen von Bauern erheben; sie werden ungestüm und unbändig wie ein Orkan sein, und keine noch so große Macht wird sie aufhalten können. Sie werden alle ihnen angelegten Fesseln sprengen und auf dem Weg zur Befreiung vorwärts stürmen.«
    Sie ließ den Brief sinken.
    »Was soll das bedeuten?« Annika schüttelte den Kopf.
    »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Haben Sie den Umschlag noch?«
    »Der liegt dann bestimmt auch im Kamin.«
    Sie fanden ihn unter den Reklamebroschüren, es war ein einfacher weißer Briefumschlag mit einem Eishockeyspieler als Briefmarke, adressiert an Familie Sandström und abgestempelt am Vortag in Uppsala.
    »Könnten Sie das Blatt bitte auf den Tisch legen, damit ich den Text abschreiben kann?«
    Angst trat in Gunnel Sandströms Augen.
    »Warum? Glauben Sie, es ist eine Drohung?«
    Annika betrachtete die Frau, ihre grauen Haare und die Strickjacke, die weichen Wangen und den gebeugten Rücken, und wurde von einer Welle des Mitgefühls überwältigt.
    »Nein«, sagte sie und versuchte zu lächeln. »Das glaube ich nicht. Aber ich denke trotzdem, dass Sie der Polizei von dem Brief erzählen sollten.«
    Annika schrieb den Brief am Küchentisch ab. Die Buchstaben waren regelmäßig und rund, die Worte symmetrisch auf der Seite angeordnet, jede zweite Zeile zugunsten einer besseren Lesbarkeit freigelassen worden. Sie bemerkte den zackigen Rand, der anzeigte, dass die Seite aus dem Block gerissen worden war, und überlegte, ob sie die Qualität des Papiers an einer Ecke prüfen sollte, beschloss jedoch, es lieber bleiben zu lassen.
    »Werden Sie in Ihrer Zeitung einen Artikel über Kurt schreiben?«, fragte Gunnel Sandström, als sie aufgestanden war und den Stuhl an den Tisch geschoben hatte.
    »Ich weiß