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Der Rote Wolf

Der Rote Wolf

Titel: Der Rote Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Marklund
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verschwitzt am Hörer, den sie ans Ohr presste.
    »Soll ich rausgehen?«, zeigte Berit pantomimisch an, indem sie erst auf sich selbst und dann auf die Schiebetür zeigte.
    Annika schüttelte den Kopf und schloss die Augen.
    Mitten im nächsten Klingeln ging jemand an den Apparat. Die Stimme, die sich meldete, war schläfrig verwirrt.
    »Mein Name ist Annika Bengtzon, ich arbeite für das
Abendblatt«,
sagte Annika mit der langsamen und deutlichen Stimme, die sie sich in den Jahren als Textredakteurin in der Nachtschicht angewöhnt hatte. Bei dieser Schicht galten die meisten Anrufe Menschen, die aus dem Schlaf gerissen wurden.
    »Wer?«, fragte die Frau am anderen Ende der Leitung.
    »Ich habe den Artikel über Linus in der Zeitung geschrieben«, antwortete Annika und spürte auf einmal, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. »Ich wollte mich nur kurz melden und Ihnen sagen, wie Leid es mir tut.«
    Plötzlich sah sie den Jungen wieder vor sich, seine abstehenden Haare, die prüfenden Augen, seine defensive Körperhaltung und die unstabile Stimme, und konnte ein unwillkürliches und lautes Schluchzen nicht unterdrücken. »Verzeihen Sie«, sagte sie, »ich …«
    Sie legte die Hand auf den Mund, um ihr Weinen zu verbergen, und schämte sich vor Berit, die sich in einem der Besuchersessel niedergelassen hatte.
    »Es war nicht Ihre Schuld«, sagte die Frau mit immer noch schlafrauer Stimme.
    »Sie sind seine Mutter?«
    »Ja, Viveka.«
    »Ich fühle mich furchtbar schuldig«, sagte Annika und musste erkennen, dass ihr Gespräch eine ganz andere Wendung genommen hatte als geplant. »Ich hätte nicht über Linus schreiben sollen. Dann wäre er heute vielleicht noch am Leben.«
    »Das werden wir niemals erfahren«, sagte die Frau tonlos. »Aber ich fand es eigentlich gut, dass Sie die Sache aus ihm rausgeholt haben. Ich konnte einfach nicht begreifen, was in ihn gefahren war. Seit jenem Abend war er wie ausgewechselt, hat mir aber nicht sagen wollen, was los ist.«
    »Das mag ja sein«, entgegnete Annika, »aber stellen Sie sich vor, wenn …«
    Die Frau unterbrach sie einigermaßen schroff. »Glauben Sie an Gott, Annika Bengtzon?« Annika wartete, bis ihre Tränen versiegt waren. »Nicht direkt«, brachte sie heraus.
    »Ich schon«, erklärte die Frau langsam und mit leicht aufgesetzter Überzeugung.
    »Der Glaube hat mir bei vielen Prüfungen im Leben geholfen. Der Herr hat Linus zu sich gerufen, und ich begreife nicht, warum er das getan hat, aber ich akzeptiere es.«
    Die Trauer war wie ein eiskalter Wind aus Lulea, der Annika schaudern ließ.
    »Meine Großmutter ist gestorben«, sagte Annika. »Das ist jetzt sieben Jahre her, aber ich denke täglich an sie. Das Ausmaß Ihres Verlusts kann ich nicht einmal ansatzweise erahnen.«
    »Ich muss meinen Weg ohne Linus fortsetzen«, erwiderte seine Mutter, »auch wenn ich heute noch nicht weiß, wie ich die Kraft dazu finden soll. Aber ich lebe in der Gewissheit, dass unser Herr tut, was das Beste für mich ist, dass er seine schützende Hand über mich hält.«
    Die Frau verstummte, und Annika hörte sie weinen. Sie wartete und überlegte, ob sie das Gespräch lieber beenden sollte.
    »Irgendwann werde ich den Grund für seinen Tod verstehen«, fuhr die Frau plötzlich mit klarer und fester Stimme fort, »und außerdem werde ich Linus ja auch wiedersehen. Daheim, bei unserem Vater. Ich weiß, dass es so ist, und das gibt mir die Kraft zu leben.«
    »Ich wünschte, ich hätte Ihren Gott«, meinte Annika.
    »Er ist auch für Sie da«, sagte die Frau. »Er ist da, Sie müssen ihn nur annehmen wollen.«
    Das folgende Schweigen hätte bedrückend sein können, aber zu ihrem Erstaunen verspürte Annika menschliche Wärme.
    »Da ist noch etwas, das ich Sie fragen wollte«, sagte sie. »Haben Sie nach Linus'
    Tod vielleicht einen merkwürdigen Brief bekommen?«
    Viveka Gustafsson dachte einen Moment nach, ehe sie antwortete.
    »Sie meinen den über die Jugend?« Annika sah zu Berit auf. »Welche Jugend?«
    »Gestern ist ein Brief ohne Absender oder Unterschrift gekommen, ich dachte, er wäre von einem der Nachbarn, der mir sein Beileid aussprechen wollte, sich aber nicht getraut hat anzuklopfen.«
    »Haben Sie den Brief noch?«
    Die Frau seufzte schwer. Alltägliche Handlungen, die zur Welt der Lebenden gehörten, hatten für sie plötzlich jeden Sinn verloren.
    »Ich glaube, ich habe ihn auf den Zeitungsstapel gelegt, warten Sie, ich werde ihn holen …«
    Ein kurzer Knall hallte

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