Der Rote Wolf
noch nicht«, antwortete Annika, »schon möglich. Wenn ich wirklich etwas schreibe, werde ich Sie vorher anrufen und es Ihnen sagen.«
Sie gab der Frau die Hand.
»Haben Sie jemanden, der sich um Sie kümmert?«, fragte sie. Gunnel nickte.
»Wir haben einen Sohn und zwei Töchter, die kommen heute Nachmittag mit ihren Familien.«
Annika wurde erneut schwindlig, es gab in diesem Haus etwas Besonderes, eine über Generationen hinweg andauernde Familienverbundenheit und Liebe, die hier seit Jahrhunderten zu Hause war.
Vielleicht sollte der Mensch sich nicht von seinen Wurzeln entfernen, dachte sie.
Unser Streben nach individueller Entwicklung zerstört womöglich die natürliche Kraft, die uns zu liebenden Wesen gemacht hat.
»Sie werden zurechtkommen«, sagte sie und wunderte sich selbst über ihre Zuversicht.
Gunnel Sandström sah sie an, und aus ihren Augen war plötzlich etwas Wesentliches verschwunden.
»Aber ich will auch Gerechtigkeit«, sagte sie.
Dann drehte sie sich abrupt um, ging in den Flur und stieg eine knarrende Treppe in die obere Etage hinauf.
Annika zog schnell ihren Mantel an und zögerte am Fuß der Treppe.
»Vielen Dank«, rief sie zaghaft, bekam jedoch keine Antwort mehr.
Berit Hamrin und Annika begegneten sich an der Hausmeisterloge neben den Aufzügen.
»Kommst du mit zum Essen?«, fragte Berit.
Annika legte die Autoschlüssel auf die Theke des Hausmeisters und sah auf die Uhr.
»Heute nicht«, erwiderte sie. »Ich muss noch eine Menge recherchieren und anschließend die Kinder abholen. Bist du völlig ausgehungert, oder hättest du eventuell einen Augenblick Zeit, dir etwas anzusehen?«
Berit horchte etwas theatralisch in sich hinein.
»Ausgehungert«, sagte sie. »Was ist es?«
»Komm mit«, befahl Annika und stürmte auf ihr Büro zu. Mantel und Schal schmiss sie in die übliche Ecke, entleerte dann den Inhalt ihrer Tasche auf dem Schreibtisch und fand ihren Notizblock. Sie blätterte bis zur letzten beschriebenen Seite vor, eilte um ihren Schreibtisch herum und riss die zweite Schublade auf, aus der sie einen weiteren Notizblock zog.
»Lies dir das mal durch«, sagte sie zu Berit und hielt ihr zwei Seiten handschriftlicher Notizen entgegen.
Ihre Kollegin nahm den ersten Block und las die oberste Zeile.
»Der gegenwärtige Aufschwung der Bauernbewegung ist ein gewaltige Ereignis«,
las sie laut und ließ die Notizen sinken. »Das ist doch ein ganz berühmtes Zitat.«
»Tatsächlich?«, fragte Annika, gespannt wie eine Feder. Den Blick auf Annika gerichtet, fuhr Berit laut und deutlich und ohne in Annikas Notizen zu schauen fort:
»Es dauert nur noch eine sehr kurze Zeit, und in allen Provinzen Mittel-, Süd- und Nordchinas werden sich Hunderte Millionen von Bauern erheben; sie werden ungestüm und unbändig wie ein Orkan sein, und keine noch so große Macht wird sie aufhalten können. Sie werden alle ihnen angelegten Fesseln sprengen und auf dem Weg zur Befreiung vorwärts stürmen.«
Annika fiel die Kinnlade herunter, und sie starrte ihre Kollegin sprachlos an.
»Der Untersuchungsbericht über die Bauernbewegung in Hunan«, sagte Berit.
»Geschrieben 1927, wenn ich mich nicht irre. Eins von Mao Tse-tungs berühmtesten Zitaten. Das konnte damals jeder auswendig.«
Annika wühlte in einer Schublade, holte weitere Notizblöcke hervor, blätterte in ihnen und fand schließlich, wonach sie suchte.
»Und das hier?«
Sie gab Berit den Block mit ihren Notizen aus Lulea.
»Es gibt keinen Aufbau ohne vorherigen Abriss. Abriss bedeutet Kritik und Verdammung, er bedeutet Revolution. Er beinhaltet, dass man die Dinge ausdiskutiert, was gleichzeitig bedeutet, etwas aufzubauen. Wenn man den Abriss an die erste Stelle setzt, erhält man den Aufbau im Verlauf des Prozesses.«
»Und?«, sagte Annika.
»Ein anderes Mao-Zitat. Warum hast du sie aufgeschrieben?« Annika musste sich setzen.
»Sie sind aus Briefen«, erklärte sie. »Aus anonymen Briefen an Mordopfer. Das zweite traf zwei Tage nach Benny Eklands Ermordung an seinem Arbeitsplatz ein, das mit der Bauernbewegung wurde einen Tag nach seinem angeblichen Selbstmord an einen Kommunalpolitiker in Östhammar geschickt.«
Berit setzte sich auf Annikas Schreibtisch, sie war blass geworden.
»Was zum …?«
Annika schüttelte den Kopf und legte die Fingerspitzen an die Schläfen.
»Ich muss mit der Mutter von Linus Gustafsson sprechen«, sagte sie.
Tausend Kilometer weiter nördlich klingelte es. Ihre Hand klebte
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