Der Rote Wolf
der Glasfront, die ihre Welt von der Redaktion trennte, sah über die Menschen hinweg und versuchte die Wirklichkeit im Schneematsch hinter dem Sportressort zu erkennen. Vom vierten Stockwerk aus sah sie vor allem einen grauen Horizont, vielleicht auch die eine oder andere Schneeflocke, weiße Atemzüge und Äste, die in der Krone einer großen Birke schaukelten.
Wir leben in einem trostlosen Land, dachte sie. Warum ließen sich die Menschen ausgerechnet hier nieder? Und warum blieben sie? Wieso halten wir es hier aus?
Sie schloss die Augen und kannte die Antwort genau. Wir wohnen dort, wo unsere Nächsten sind, wir leben für die Menschen, die wir lieben, für unsere Kinder.
Und dann kommt einer und tötet sie, löscht den Sinn des Lebens für uns aus.
Das war unverzeihlich.
Schnell ging sie zu ihrem Schreibtisch zurück und wählte die Nummer von Qs Handy. Seine blecherne Handystimme erklärte, dass er den ganzen Tag in einer Besprechung sitze, Nachrichten nicht hinterlassen werden könnten und er erst morgen wieder zu erreichen sei.
Sie wählte seine Durchwahl bei der Landespolizei, und nachdem sie mehrfach weiterverbunden worden war, meldete sich seine Sekretärin.
»Er ist in einer Besprechung«, sagte sie, »und anschließend muss er gleich zur nächsten Besprechung.«
»Ja, ich weiß«, sagte Annika und sah auf die Uhr, es war 15.32 Uhr. »Wir hatten abgemacht, uns zwischen seinen beiden Besprechungen kurz zu treffen, er meinte, dass ich kurz vor vier bei ihm vorbeischauen könne.«
Die Sekretärin blieb misstrauisch.
»Davon hat er mir aber nichts gesagt.«
»Er weiß, dass es schnell geht.«
»Aber um vier soll er doch schon im Justizministerium sein, um Viertel vor wird er abgeholt.«
Annika machte sich eine Notiz. Das Justizministerium war in der vierten und fünften Etage des Regierungssitzes, direkt unter der Staatskanzlei, allerdings nicht das ganze Ministerium. Die einzelnen Komitees tagten in anderen Gebäuden.
»Ja, genau«, sagte sie. »Es war dieses Komitee …?«
Die Sekretärin blätterte in einem Terminkalender.
»Ju 2002:13, Beratung eines neuen Strafvollzugsrechts«, sagte sie.
Annika strich ihre Notiz durch und schrieb stattdessen Regeringsgatan.
»Dann muss ich ihn missverstanden haben«, erklärte sie. »Ich werde es morgen noch einmal versuchen.«
Sie warf ihre Notizen in die Tasche, gefolgt von Mütze, Handschuhen und Schal, suchte in dem Durcheinander auf dem Schreibtisch nach ihrem Handy, konnte es jedoch nicht finden und beschloss daraufhin, dass es schon irgendwo in ihrer Tasche sein musste. Also riss sie die Schiebetür auf und nahm Kurs auf den Newsdesk.
Jansson war gerade gekommen. Ungekämmt und mit einem Plastikbecher neben sich las er Lokalzeitungen.
»Irgendwie ist der Kaffeeautomat kaputt«, sagte er zu Annika und zeigte auf den Becher.
»Willst du nicht eine rauchen?«, erwiderte sie, und Jansson griff auf der Stelle nach seiner Zigarettenschachtel.
Annika betrat die menschenleere, verglaste Raucherklause, die einsam und übel riechend mitten in der Redaktion stand.
»Ich bin da möglicherweise auf einen Serienmörder gestoßen«, sagte sie, während Jansson sich den zwanzigsten Nikotinstängel des Tages ansteckte.
Er blies den Rauch aus und starrte zum Gitter der Lüftung hinauf.
»Möglicherweise?«
»Ich weiß noch nicht, ob oder was die Polizei weiß«, sagte sie. »Ich hoffe, Qjn einer Viertelstunde auf dem Weg zu einer Besprechung abfangen zu können.«
»Sag mir, was du hast.«
»Drei Todesfälle«, begann sie. »Ein überfahrener Journalist und ein ermordeter Junge in Lulea, ein erschossener Kommunalpolitiker in Osthammar. Die Angehörigen haben am Tag nach dem Todesfall alle anonyme Briefe bekommen, und zwar handgeschriebene Mao-Zitate auf liniertem Collegeblock-Papier, verschickt in ganz normalen weißen Briefumschlägen mit Briefmarken, auf denen Eishockeyspieler zu sehen sind.«
Janssons Augen waren rot unterlaufen, und sein Blick ruhte nach achtzehn Jahren Nachtschicht und einer vierten Ehefrau mit einem fünften Baby übermüdet auf ihr.
»Das klingt, als wären wir auf der sicheren Seite«, meinte er. »Die Polizei muss nur noch die Tatsachen kommentieren.«
»Mit etwas Glück haben sie sogar noch mehr.«
Der Chef vom Dienst sah auf seine Uhr.
»Geh direkt runter auf die Straße«, sagte er und drückte die halb gerauchte Zigarette in einem Chromaschenbecher aus. »Ich besorg dir ein Taxi.«
Sie verließ die Raucherklause,
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