Der Rote Wolf
»Gestern, es ist dringend«, sagte Annika.
»Wann ist es das nicht?«
»Ich sitze hier und warte und kann ohne Ihren Bescheid nicht weitermachen.«
Ein kaum hörbares Seufzen drang aus dem Hörer.
»Ich stelle Ihnen auf die Schnelle eine Übersicht zusammen und schaue nach, ob ich etwas in unserem Material finde. Sich alles durchzulesen, was über den Maoismus veröffentlicht worden ist, würde Wochen dauern.«
Während sie auf die Antwort aus dem Archiv wartete, sah Annika in die Redaktion hinaus.
»Sorry. Kein Göran Nilsson, der als Maoist beschrieben wird. Dafür aber ein paar hundert andere.«
»Danke, dass Sie es so schnell bearbeitet haben«, sagte Annika.
Welche anderen Archive gab es aus jener Zeit in den Orten, an denen die Maoisten aktiv gewesen waren? Die Universitätsstädte, dachte sie. Das Konkurrenzblatt gab es damals auch schon, aber dort konnte sie natürlich schlecht anrufen.
Upsala Nya Tidningi
Da kannte sie niemanden. Welche Zeitung gab es denn in Lund?
Sie kratzte sich gereizt am Kopf.
Was war mit Lulea?
Sie hob den Hörer und wählte die Nummer der
Norrlands-Tidningen.
»Hasse Blomberg war gestern krank, ich weiß nicht, ob er heute zur Arbeit kommt«, sagte die Telefonistin und wollte das Gespräch schon wegschalten.
Annika wurde auf einmal von unerklärlicher Angst erfasst, großer Gott, hoffentlich war Blomberg nichts passiert.
»Was ist denn mit ihm? Ist es was Ernstes?«
Die Telefonistin seufzte, als wäre Annika ein bisschen zurückgeblieben.
»Er ist ausgebrannt, genau wie die anderen. Ich persönlich glaube allerdings, dass sie alle einfach nur faul sind.« Annika stutzte.
»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein«, sagte sie.
»Haben Sie mal darüber nachgedacht, dass sich so viele Leute erst ausgebrannt fühlen, seit wir in der EU sind? Der ganze Mist, der über die Grenzen ins Land strömt, kommt aus der EU, Menschen und Gifte und auch, dass die Leute sich ausgebrannt fühlen. Und dabei habe ich sogar für den Beitritt gestimmt. Wir sind gründlich reingelegt worden, so ist das.«
»Ist Hans Blomberg denn oft krank?«
»Mittlerweile ist er aus gesundheitlichen Gründen schon halb in Rente, und an den wenigen Tagen, an denen er eigentlich arbeiten soll, taucht er auch nicht unbedingt auf, wie man es erwarten könnte.«
Annika biss sich auf die Lippe, sie musste so schnell wie möglich an das Archiv der
Norrlands-Tidningen
herankommen.
»Könnten Sie ihn bitten, mich anzurufen, wenn er kommt?«
Sie hinterließ ihren Namen und ihre Telefonnummer.
»Wenn
er kommt«, meinte die Telefonistin.
Göran Nilsson, dachte sie, als sie aufgelegt hatte, und starrte den jungen Mann auf ihrem Bildschirm an.
Bist du das, Göran?
Der Kaffeeautomat war repariert worden und das Gebräu heißer als je zuvor. Sie nahm ihre üblichen zwei Becher mit ins Büro und brachte ihr Gehirn mit Koffein auf Touren.
Wegen des Schlafmangels brannten ihre Augen, sie hatte in dieser Nacht keine Ruhe gefunden. Lange hatte sie mit geschlossenen Augen wach gelegen, während sich Thomas neben ihr unruhig wälzte, stöhnte und sich kratzte. Der Tod des Politikers schien ihn wirklich erschüttert zu haben.
Sie schüttelte ihre Müdigkeit ab und suchte weiter, tippte Sattajärvi ein und fand eine Homepage zu einem Projekt in der Region Ende der neunziger Jahre, sie war Besucher Nummer 16781. Es gab unter anderem eine Landkarte, und sie lehnte sich zum Bildschirm vor, um das Dorf zu finden und die winzig kleinen Buchstaben lesen zu können, mit denen die Namen der Orte in der Umgebung geschrieben waren: Roukovaara, Ohtanajärvi, Kompeluslehto.
Es ist nicht nur eine andere Sprache, dachte sie. Es ist ein anderes Land, das sich steif gefroren auf der Tundra nördlich des Polarkreises ausbreitet.
Sie lehnte sich zurück.
Wie hatte man es sich vorzustellen, in den fünfziger Jahren nördlich des Polarkreises aufzuwachsen und einen Vater zu haben, der Pfarrer in einer strengen und etwas seltsamen Gemeinde war?
Soweit Annika wusste, hatte die Schweizer Psychoanalytikerin Alice Miller festgestellt, dass auffällig viele deutsche Terroristen protestantische Geistliche als Väter hatten, und sah dort einen Zusammenhang: Die Gewalttätigkeit der Terroristen war in ihren Augen eine Revolte gegen eine äußerst strenge religiöse Erziehung.
Das könnte ja durchaus auch auf Schweden und den Laestadianismus zutreffen, dachte Annika und rieb sich die Augen. Im selben Moment sah sie Berit hinter den staubigen
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