Der Rote Wolf
Umständen publik werden.
Es würde sich niemals beweisen lassen, dass die Regierung zu diesem Treffen gezwungen wurde, weil sonst die Wahrheit in der so genannten IB-Affäre ans Licht gekommen wäre, ebenso wenig wie die Tatsache, dass es um einen illegalen Waffenexport in eine der ehemaligen Sowjetrepubliken ging. Dennoch war sich Annika sicher gewesen, dass es so war, und hatte Karina Björnlund davon erzählt.
Das war natürlich ein Fehler gewesen, aber sie hatte Christer Lundgren einen Kommentar entlocken wollen, indem sie die ganze Geschichte seiner Pressesprecherin erzählte. Eine Antwort hatte sie nie erhalten. Stattdessen war Björnlund kurz darauf zur Kultusministerin ernannt worden.
»Meine dämliche Anfrage ebnete unserer Kultusministerin den Weg«, sagte Annika.
»Vermutlich«, meinte Berit.
»Was letztlich bedeutet, dass ich daran schuld bin, wenn in Schweden eine derart stümperhafte Kulturpolitik betrieben wird, nicht wahr?«
»So ist es«, bestätigte Berit und stand auf. »Möchtest du noch etwas? Einen Salat? Noch ein Glas Wasser?«
Annika schüttelte den Kopf und sah ihrer Kollegin nach, während sie gleichzeitig ihre Mineralwasserflasche öffnete und sich ein Glas einschenkte.
»Was wolltest du eigentlich von mir?«, fragte Berit, als sie zurückkam, und ließ sich wieder auf ihren Stuhl fallen.
»Ich möchte mehr über deine Vergangenheit erfahren«, sagte Annika. »Was war das Manifest vom 9. April?«
Berit kaute ein paar Sekunden abwesend und schüttelte dann den Kopf.
»Dazu fällt mir nichts ein«, sagte sie. »Wieso fragst du?« Annika leerte ihr Glas.
»Das stand in einer Bildunterschrift im Internet. Auf dem Foto waren ein paar Jungs mit typischen Achtundsechziger-Klamotten zu sehen, die im Namen des großen Vorsitzenden Mao begeistert die Massen mobilisieren wollten.«
Berit hörte auf zu kauen und starrte sie an.
»Das klingt ganz nach den Uppsala-Rebellen«, sagte sie, legte das Besteck auf den Tisch und nickte gedankenverloren.
»Stimmt«, fuhr sie fort, »die haben im Frühjahr '68 irgendein Manifest proklamiert. Ob das jetzt am 9. April war, wage ich, ehrlich gesagt, nicht zu behaupten, aber im besagten Frühjahr waren sie unglaublich aktiv.« Sie lachte auf, schüttelte den Kopf, nahm das Besteck wieder in die Hand und aß weiter.
»Was ist?«, fragte Annika. »Nun sag schon!«
Berit seufzte und lächelte.
»Ich hab dir doch erzählt, dass die vom Vietnam-Bulletin uns angerufen und gedroht haben«, erklärte sie. »Diese Uppsala-Rebellen waren richtige Schwachköpfe. Jeden Tag hielten sie Marathonversammlungen ab, im Allgemeinen begannen sie um ein Uhr mittags und tagten bis weit nach Mitternacht. Ein Freund von mir, der einmal bei so einer Versammlung dabei war, meinte, es wäre im Grunde nicht darum gegangen, über Politik zu diskutieren. Er nannte diese Treffen Halleluja-Orgien.«
»Erweckungsgottesdienste?«, fragte Annika.
Berit schluckte einen Bissen herunter.
»Es erinnerte wohl tatsächlich ein wenig an so was. Alle Anwesenden waren zutiefst gläubige Maoisten, einer nach dem anderen standen sie auf und legten Zeugnis darüber ab, was für eine geistige Atombombe Maos Denken für sie sei. Nach jeder Rede wurde stürmisch applaudiert. Von Zeit zu Zeit machte man eine Pause, aß Brote und trank Bier, und anschließend machte man mit einer neuen Runde von Bekenntnissen weiter.«
»Aber wie?«, sagte Annika. »Was haben sie denn so gesagt?«
»Man zitierte den großen Vorsitzenden. Jeder, der seine Ansichten in eigenen Worten zu formulieren versuchte, wurde augenblicklich des bürgerlichen Sprachgebrauchs bezichtigt. Die einzige Ausnahme war ›Tod den Faschisten von der KFML‹.«
Annika lehnte sich zurück, sortierte einen Cashewkern unter einem Salatblatt heraus und kaute nachdenklich auf ihm herum.
»Aber die von der KFML waren doch auch Kommunisten, oder nicht?«
»Ja klar«, antwortete Berit und wischte sich den Mund ab. »Aber für die Rebellen war nichts grässlicher als Leute, die fast, aber eben nur fast, die gleiche Meinung hatten wie sie. Torbjörn Säfve, der ein ausgezeichnetes Buch über diese Rebellenbewegung geschrieben hat, nennt das ›die paranoide Querulanz‹.
Wenn diese Leute Plakate aufhängten, machten sie daraus eine große Sache.
Wenn jemand beispielsweise ein Porträt von Lenin aufhängte, das größer war als das von Mao, wurde dies sofort als konterrevolutionär bezeichnet. Manchmal reichte es aber auch schon, den oberen
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