Der Rote Wolf
Vorhängen vorbeihuschen und stemmte sich aus ihrem Stuhl.
»Hast du einen Moment Zeit?«, rief sie durch den Türspalt.
Berit zog Mütze und Handschuhe aus und faltete ihren Schal ordentlich zusammen.
»Ich wollte was essen gehen, kommst du mit zu den Sieben Ratten?«
Annika ging aus dem Internet, fischte ihr Portemonnaie aus der Tasche und stellte fest, dass sie keine Essensmarken mehr hatte.
»Müssen wir unbedingt in die Kantine gehen?«, fragte sie und schaute sich um, denn sie hatte kein wirkliches Zutrauen zu der neu entdeckten Wärme der Kollegen.
Berit hängte den Mantel auf einen Bügel und bürstete die Schultern des Kleidungsstücks mit der Hand ab.
»Wir können in ein Café gehen, wenn du willst«, sagte sie, »aber ich bin gerade an den Sieben Ratten vorbeigegangen, es war ziemlich leer dort. Es gibt Hähnchen aus dem Wok mit Cashewkernen.«
Annika biss sich auf den linken Zeigefingernagel, horchte in sich hinein, ob sie das schaffen würde, und nickte.
»Wo bist du gewesen?«, fragte sie auf der Treppe nach unten.
»Es gibt Gerüchte über eine Regierungsumbildung«, sagte Berit und brachte ihre Haare wieder in Form, die von der Mütze platt gedrückt worden waren. »Dem Pemierminister bleibt vor der Europawahl nicht mehr viel Zeit. Wenn es unter den Ministern zu einem Stühlerücken kommen soll, muss er rasch handeln.«
Sie gelangten ins Foyer. Annika blieb auf dem Weg in die Kantine dicht hinter Berit.
»Und?«, sagte sie und nahm sich ein orangefarbenes Plastiktablett.
Berit schüttelte den Kopf.
»Du weißt doch, wie er ist. Vorher ist nichts aus ihm rauszuholen.«
»Wer soll denn diesmal rausfliegen?«, erkundigte sich Annika und vermied es, die schier endlose Reihe von Tischen mit den pflegeleichten Oberflächen anzusehen.
»Na, diese Dünnbrettbohrerin Björnlund natürlich«, antwortete Berit. »Sie ist die schlechteste Kultusministerin der Weltgeschichte. In neun Jahren hat sie keinen einzigen Vorschlag durchsetzen können. Der Wirtschaftsminister hat eine kranke Frau, um die er sich intensiver kümmern möchte, also geht er freiwillig. Der Wohnungsbauminister war auch nicht unbedingt so erfolgreich, wie die Partei gehofft hatte, also wird er wohl gehen müssen, und sein Posten wird abgeschafft.«
Berit hatte Essensmarken und bezahlte für beide.
»Wer wird sie ersetzen?«
Sie suchten sich einen Platz in einer Ecke.
»Es gibt Gerüchte, dass Christer Lundgren aus seinem Exil bei SSAB in Lulea zurückkehren soll«, meinte Berit und goss sich ein Leichtbier ein.
Annika verschluckte sich an einem Cashewkern und bekam einen Hustenanfall.
»Alles in Ordnung? Soll ich dir auf den Rücken klopfen?«
Annika schüttelte den Kopf und hob einen Arm.
»Schon okay«, sagte sie mit Tränen in den Augen. »Ist das wahr?«
Berit stopfte sich einen großen Bissen Hähnchen in den Mund.
»Das Parteipräsidium hat er nie verlassen, also dürfte er schon seit längerem wieder für einen Ministerposten vorgesehen sein. Bist du sicher, dass du okay bist?«
Annika nickte und atmete vorsichtig mit der Hand auf der Brust.
»Es ist offenbar an der Zeit, ihn wieder in Gnaden aufzunehmen«, fuhr Berit fort. »Es heißt, dass er da oben ziemlich gute Arbeit geleistet hat. Neuer Wirtschaftsminister ist ein heißer Insider-Tipp, aber man weiß ja nie. Die Frage ist, ob das schwedische Volk die Stripperin schon vergessen hat, wegen der er unter Mordverdacht geraten war.«
»Du meinst Josefine Liljeberg«, sagte Annika. »Aber er hat sie nicht ermordet.«
»Klar, wir beide wissen das.«
Annika bekam keinen Bissen mehr herunter, das Hühnchen schmeckte einfach nach gar nichts. Sie schob den Teller von sich.
Schon Vorjahren hatte sie Berit erzählt, zu welchen Schlussfolgerungen sie im Zusammenhang mit Christer Lundgrens Rücktritt gekommen war, und ihr die Dokumente und Reisekostenabrech nungen gezeigt, die bewiesen, dass der Außenhandelsminister«ich in der Mordnacht nicht in Stockholm aufgehalten hatte. Stattdessen hatte er jemanden in der estnischen Hauptstadt Tallinn getroffen, und dieses Treffen war ein derart heißes Eisen gewesen, dass er lieber akzeptierte, des Mordes beschuldigt zu werden, als zu enthüllen, mit wem er dort verabredet gewesen war.
Annika und Berit waren sich einig, dass es dafür nur eine Erklärung geben konnte. Christer Lundgren opferte sich für seine Partei. Wen er in Tallinn getroffen hatte und was der Gegenstand ihres Gesprächs gewesen war, durfte unter keinen
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