Der Rote Wolf
Laminatboden des Korridors, vorbei an Paletten voller Kopierer und zusammengefalteter Umzugskartons.
Sie hatte gewonnen! Die drei großen unabhängigen Filmproduktionsgesellschaften hatten sich bereit erklärt, die ursprünglich getroffenen mündlichen Absprachen einzuhalten und ihre Filme an TV Scandinavia zu verkaufen. Ein Vertreter der größten Firma hatte ihr zudem verraten, wie das Unternehmen von der Eignerfamilie unter Druck gesetzt worden war, damit es von den getroffenen Vereinbarungen zurücktrat: Außer einem Totalboykott ihrer Filmproduktionen, was Vertrieb und Finanzierung anging, hatten sie sich auf eine intensive Durchleuchtung ihrer gesamten Geschäftsaktivitäten durch die Medien der Eignerfamilie gefasst zu machen. Alle Geschäfte der Firma würden unter die Lupe genommen und kritisiert werden, ganz gleich, worum es dabei ging. Die Schauspieler, die für das Unternehmen tätig waren, würden mit massiven Verleumdungskampagnen zu rechnen haben und Kolumnisten das Wort ergreifen und den Rücktritt des Vorstands fordern.
»Wenn es etwas gibt, das ich abgrundtief hasse, dann sind es Mafiamethoden«, meinte der Direktor des Unternehmens, der zufällig auf Sizilien geboren war und sich nicht so leicht einschüchtern lassen würde.
Jetzt könnt ihr ins Gras beißen, ihr Schweine, dachte Anne und hörte innerlich bereits die Champagnerkorken knallen.
Sie setzte sich auf ihren Stuhl und legte die Füße auf den Schreibtisch.
TV Scandinavia würde Erfolg haben, Schweden war keine Bananenrepublik.
Eine einzelne Familie hatte in diesem Land nicht die Macht, über das freie Wort zu bestimmen, und konnte nicht einfach bestimmte Medien verbieten, weil sie die eigenen wirtschaftlichen Interessen bedrohten, so lief das nicht in einer Demokratie.
Sie zog die unterste Schreibtischschublade auf und holte eine ungeöffnete Whiskyflasche heraus, wog sie in der Hand und fin gerte am Korken herum. Sie summte ein altes Lied. Hatte sie es sich nicht verdient, ein wenig zu feiern?
Das Telefon klingelte und ließ sie zusammenschrecken. Schnell legte sie die Flasche in die Schublade zurück und schloss sie ab, bevor sie den Hörer abhob.
»Was hast du gestern mit Sylvia gemacht?«
Mehmets Stimme war trügerisch sanft, aber Anne kannte ihn zu gut und wusste deshalb, dass er innerlich vor Wut kochte.
»Die Frage ist doch wohl eher, was sie im Kindergarten meiner Tochter zu suchen hatte«, erwiderte Anne.
»Können wir uns nicht wie erwachsene Menschen benehmen?«, fragte Mehmet mit lauter werdender Stimme.
»Und welchen erwachsenen Plan hattet ihr gestern? Sollte ich in den Kindergarten kommen und feststellen müssen, dass Miranda verschwunden ist?
Was sollte ich denn glauben? Miranda wäre vor mir geflohen, weil sie lieber mit Sylvia zusammen sein möchte? Oder dass sie gekidnappt wurde?«
»Sei nicht albern«, sagte Mehmet, und seine Stimme konnte seine ungeheure Wut nicht länger verbergen.
»Albern?«, schrie Anne in den Hörer hinein und stand auf. »Albern?! Was zum Teufel treibt ihr da eigentlich in eurer verdammten Kleinfamilie? Erst kommst du zu mir nach Hause und sagst, dass du mit deiner Alten das Sorgerecht für mein Kind haben willst, dann versucht sie Miranda im Kindergarten einzukassieren. Was ist hier eigentlich Sache? Wollt ihr mich terrorisieren?«
»Jetzt komm mal wieder runter«, sagte Mehmet und klang vollkommen kalt.
Verachtung schlug ihr entgegen und ließ sie erstarren.
»Ach, fahr doch zur Hölle«, sagte sie und legte auf.
Anschließend glotzte sie im Stehen das Telefon an. Es klingelte nach dem Moment, den es dauerte, auf Wahlwiederholung zu drücken.
»Dann ist Miranda jetzt also nur noch dein Kind? Was ist denn aus deinen ganzen berückenden Idealvorstellungen von allgemein gültiger Verantwortung geworden? Deinen hochtrabenden Theorien zur gemeinsamen Elternschaft und dass die Kinder dem Kollektiv gehören und nicht einem Individuum?«
Anne Snapphane ließ sich wieder auf ihren Stuhl fallen und spürte fassungslos, wie sie in einem Morast versank, im Sumpf der Verbitterung und Missgunst und Böswilligkeit, in dem alle Intriganten geboren werden. Sie konnte nichts dagegen tun, der Treibsand hatte sie bereits gepackt, und je heftiger sie gegen ihn ankämpfte, desto schneller zog er sie hinunter.
»Aber, mein Lieber«, sagte sie, »wer hat hier eigentlich wen verlassen? Wer fängt denn hier Streit an? Ich jedenfalls nicht.«
»Sylvia hat gestern den ganzen Abend geweint, sie war
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