Der Rote Wolf
untröstlich«, sagte Mehmet, und seine Stimme klang bei diesen Worten so weinerlich und belegt, dass es Anne schier rasend machte.
»Oh, mein Gott«, schrie sie. »Ist es etwa meine Schuld, dass sie schwache Nerven hat?«
Mehmet atmete tief durch, sammelte sich vor einem Frontalangriff.
»Sylvia hat mir gesagt, du hättest sie runtergeputzt, aber eins sage ich dir, Anne Snapphane: Wenn du meine Familie kaputtmachst, bin ich zu allem fähig.«
Anne blieb die Luft weg.
»Du drohst mir?«, sagte sie. »Hast du sie noch alle? Wie tief bist du eigentlich gesunken? Hat sie dir so den Verstand vernebelt?«
Als er ihr antwortete, schien seine Stimme Lichtjahre entfernt zu sein.
»Ich verstehe«, sagte er. »Wenn du es so haben willst, bitte schön.« Und dann wurde es still, das Gespräch war beendet, und Anne beugte sich über den Schreibtisch und weinte.
Annika stieg rastlos die Treppen zur Redaktion hoch. Das Blättern in den alten Zeitungsbänden hatte ihr nichts gebracht als schmutzige Hände und staubige Jeans. Die sechziger Jahre und ihre politischen Strömungen wurden von den Zeitungen nicht sehr gründlich verfolgt, damals wie heute bedeutete jeder Tag eine neue Zeitung mit Anzeigen, die es zu verkaufen galt, und Schlagzeilen, die gefunden werden mussten.
Außerdem waren das Layout und die Druckqualität der Zeitungen in den sechziger Jahren wirklich noch grausam, die Seiten waren seltsam aufgeteilt und die Bilder grobkörnig. Sie war froh, dass sie damals nicht hatte arbeiten müssen.
Aber jede Epoche hat ihre eigenen Ideale, dachte sie und ging zu ihrem Glaskasten. Man kann in einer Zeit wie an einem Ort wohnen, und die sechziger Jahre wären sicher nichts für mich gewesen.
Aber war die Welt des 21. Jahrhunderts denn was für sie?
Sie hörte das Telefon klingeln und ging schneller.
»Sie wollten mich sprechen«, sagte Hans Blomberg, der Archivar der
Norrlands-Tidningen.
»Schön, dass sie zurückrufen«, sagte Annika und zog die Tür hinter sich zu.
»Wie geht es Ihnen?«
»Wieso fragen Sie?«, sagte er nach einer kurzen Pause.
Sie setzte sich und wunderte sich über die Resignation in seiner Stimme.
»Die Telefonistin meinte, Sie wären krank gewesen, ich habe mir fast schon Sorgen um Sie gemacht.«
»Oh, hoho, die Fürsorge zärtlicher Frauen«, sagte Hans Blomberg und klang nun wieder, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Annika musste lächeln. Vor ihrem inneren Auge sah sie ihn in seiner Strickjacke an dem abgestoßenen Schreibtisch unter der Pinnwand sitzen, an der die Kinderzeichnung und das Bild mit der Ermahnung hingen, bis zur endgültigen Pensionierung durchzuhalten.
»Es war doch nichts Ernstes, hoffe ich?«, sagte Annika und reckte sich auf ihrem Stuhl.
»Nein, nein«, antwortete der Archivar. »Nur das Übliche, ein überschrittenes Mindesthaltbarkeitsdatum, man darf noch ein paar Tage im Kühlschrank stehen bleiben, ehe man weggegossen wird, aber niemand trinkt einen mehr, man steht nur herum und wird sauer und nimmt den frischeren Lebensmitteln den Platz weg, aber das ist schon in Ordnung. So ergeht es heutzutage ja allen in unserer Gesellschaft.«
Ihr Lächeln erstarb, während er sprach, sein Ton war sarkastisch, und er konnte seine Frustration nicht verbergen.
»Aber nein«, sagte Annika leichthin und beschloss, seine Verbitterung zu ignorieren. »Für mich sind Sie ein Wein aus einem guten Jahrgang.«
»Da sieht man's mal wieder. Ihr Stockholmerinnen wisst einen richtigen Mann eben noch zu schätzen. Womit kann ich der Dame dienen?«
»Es geht um eine allgemeine Anfrage zu einem älteren Jahrgang. Ich suche nach Informationen über einen Mann aus Sattajärvi, der Ende der sechziger Jahre in Lulea wohnte und vermutlich für die Kirche arbeitete. Sein Name war Göran Nilsson.«
»Ist er tot?«, sagte Hans Blomberg.
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Annika.
»Dann ziehen wir die Verblichenen nicht in Betracht. Was wollen Sie wissen?«
»Egal was. Dass er einen Jitterbug-Wettbewerb gewonnen oder gegen den Imperialismus demonstriert, eine Bank ausgeraubt oder geheiratet hat.«
»Göran Nilsson, sagten Sie? Sie hätten nicht eventuell einen noch verbreiteteren Namen finden können?«
»Ich habe überall gesucht, aber keinen gefunden«, meinte Annika.
Der Archivar stöhnte, und Annika stellte sich vor, wie er sich auf seinen Schreibtisch stützte und aus dem Stuhl stemmte.
»Das kann aber ein paar Minuten dauern«, sagte er, was sich als die Untertreibung des Tages
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