Der rote Würfel
Seufzer dringt mir über die Lippen. »Ich weiß, Arturo. Und keine gute.« Ich habe mich weit entfernt von meiner Ausgangsstelle. Vor mir erhebt sich
ein Berghang, und ich steige auf den Gipfel hinauf. Dreißig Kilometer zur Linken liegt Las Vegas. Luxus und Verschwendung leuchten mir entgegen. Rechts über mir steht der nun fast volle Mond. Der Fußmarsch hat mich ins Schwitzen gebracht. Ich lege die Kleider ab und recke mich noch einmal der Mondgottheit entgegen. Dieses Mal spüre ich, wie die Strahlen in meinen Körper dringen und einen merkwürdig angenehmen Kälteschauer auslösen. Meine Atemzüge dehnen sich aus und werden tief. Mir ist, als nähmen meine Lungen die ganze Atmosphäre in sich auf, als sauge meine Haut den ganzen Nachthimmel auf. Das Herz hämmert mir in der Brust und schickt jetzt statt rotem Blut eine milchig-weiße Substanz auf die innere Umlaufbahn. Ohne hinsehen zu müssen, spüre ich, daß ich durchsichtig werde. Ich fühle mich außergewöhnlich leicht.
Als könnte ich fliegen.
Dieser Gedanke kommt aus einem mir unbekannten Ort. Er wirkt auf mich wie ein leises Raunen aus dem ewigen Abgrund. Vielleicht kehrt Yakshas Seele zu mir zurück, um mir eine letzte Lektion zu erteilen.
Meine Fußsohlen verlieren den Kontakt zum Berggipfel.
Aber ich bin nicht gesprungen. O nein.
Ich schwebe mehrere Meter über dem kühlen Sand.
10.
KAPITEL
Zurück in meinem Zimmer rufe ich als erstes Seymour Dorsten an, meinen Freund und Autobiographen. Er ist der junge Mann, den ich mit ein paar Tropfen meines Blutes von AIDS geheilt habe. Seymour ist mein geistiger Zwilling. Er schreibt oft darüber, was ich erlebt habe, ohne daß ich ihm groß darüber berichten müßte. In letzter Zeit habe ich ihm eine Menge Material übertragen. Ich wecke ihn auf, doch kaum hört er meine Stimme, ist er hellwach.
»Ich wußte, daß du bald anrufen würdest«, meint er nur. »Warst du das in Los
Angeles?«
»Joel und ich.«
Er braucht einen Moment, um die Tragweite meiner Worte zu begreifen. »Joel
ist jetzt auch ein Vampir?«
»Ja. Eddie hat ihn total fertiggemacht. Er lag im Sterben. Ich konnte nicht
anders.«
»Du hast dein Gelübde gebrochen.«
»Mußt du mich daran erinnern?«
»Tut mir leid.« Er hält inne. »Kann ich auch Vampir werden?«
»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Laß mich dir lieber erzählen, was
passiert ist.«
Anderthalb Stunden lang lauscht Seymour meinen Worten, während ich ihm
haarklein darlege, was sich ereignet hat seit dem Zeitpunkt, als ich Yaksha
befreite und den Kampf mit Eddie aufnahm. Ich erwähne auch Tex, der nun in
seinem Wüstengrab schlummert, und mein Schweben im Mondlicht. Seymour
läßt meine Ausführungen eine Weile auf sich wirken.
»Und?« frage ich ihn schließlich. »Hast du darüber auch schon was
geschrieben?«
Er zögert. »Na ja. Ich habe eine Geschichte über dich geschrieben. Darin bist
du ein Engel.«
»Etwa einer mit Flügeln?«
»Du bist hell leuchtend über einer zerstörten Landschaft geflogen.« »Hört sich ja direkt nach Weltuntergang an«, bemerke ich.
Seymour bleibt ernst. »Wenn du Joel nicht aus den Händen dieser Leute
herausholst, bedeutet das wirklich Weltuntergang. Meinst du, die haben außer
Joel echt noch einen Vampir?«
»Ja. Andy hat ein Modell der Vampir-DNS. Das muß er schon fertig gehabt
haben, bevor sie Joel zu ihm brachten.«
»Woher weißt du eigentlich, wie DNS von Vampiren aussieht?« Ich hatte
Seymour nichts von Arturo erzählt. Diese Geschichte bereitet mir zuviel
Schmerzen, und außerdem glaube ich nicht, daß sie zur Sache gehört. »Glaub mir, ich kenn’ mich aus damit«, erwidere ich. »Andys Modell ist
genau. Wie dem auch sei, ob ich nun einen oder zwei dort rausholen muß: Das
Problem bleibt gleich. Ich muß rein und dann zu dritt wieder raus.« »Nach dem, was du erzählst, ist Andy dein größter Trumpf. Kannst du ihm
nicht in die Augen starren und ihn dazu bringen, genau das zu tun, was du
willst?«
»Der Schuß kann nach hinten losgehen. Wenn ich es übertreibe, geht sein
Gehirn in Flammen auf, und die anderen kriegen mit, daß etwas mit ihm nicht
stimmt. Wenn ich vorsichtig vorgehe, kann ich ihm aber in jedem Fall ein paar
Suggestionen tief ins Gehirn pflanzen.«
»Geld zieht doch immer. Biete ihm ein paar Millionen an. Daß er seinen Chef
so haßt, kommt doch auch nicht ungelegen.«
»Stimmt schon. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, einen Teil von der
Geschichte nicht mitzukriegen, Seymour. Kannst du mir da helfen?«
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