Der Ruf der Finsternis - Algarad 2
lustwandelten.
Sie reckte den Kopf und versuchte die Flaggen der Schiffe zu erkennen, die an der Kaimauer lagen. Sie kannte die meisten Fahnen des Reiches, ihr Onkel Erskryn selbst hatte sie ihr beigebracht, als sie ein kleines Mädchen gewesen war. Es war eine jener seltenen Gelegenheiten gewesen, bei denen er sich um sie gekümmert und ihr das Gefühl gegeben hatte, von ihm beachtet zu werden.
Während sie trotzig versuchte, die Erinnerung an ihren Onkel zu vertreiben, machte ihr Herz plötzlich einen Satz. Sie konnte es kaum glauben: Dort unten zwischen zwei großen Frachtschiffen ankerte die Etana, Harrids neue Fregatte, unschwer zu erkennen an ihrer schlanken Bauart und der Flagge Meledins. Natürlich, wie hatte sie das vergessen können – Harrid und Chast mussten schon längst in Shon angekommen sein! Immerhin waren Wochen vergangen, seit sie im Auftrag Andorins zu den Südinseln aufgebrochen waren, um den Herrscher von Shon um seine Hilfe im Kampf gegen Achest zu bitten. Das mochte zwar ein recht aussichtsloses Unterfangen sein, zog man die Feindschaft in Betracht, die der Herrscher der Südinseln Hochkönig Andorin entgegenbrachte, doch wollte man nichts unversucht lassen.
Ein Funken der Hoffnung flammte in Eilenna auf. Wenn es ihr gelang, aus Thut Thul Kanens Wohnturm zu entfliehen ... Sie wagte den Gedanken nicht zu Ende zu führen. Wie sollte ihr das jemals gelingen, wo sie so hoch droben eingesperrt war? Und selbst wenn sie einen Weg fände – die Etana konnte jederzeit wieder in See stechen und abfahren, bevor sie das Schiff erreichte. Mit einem Seufzer wandte sie sich ab und ließ sich in einen weit nach hinten geneigten Sessel aus rotem Leder fallen. Sie fühlte sich einsam und verlassen und wäre sogar kurzzeitig für Thut Thul Kanens Anwesenheit dankbar gewesen.
Doch der Gedanke an Flucht wollte sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Sie war der Willkür eines unberechenbaren und bedrohlichen Mannes ausgeliefert, der vorgab, sie zu bewundern, in Wirklichkeit aber nur darauf bedacht war, sie seinem Willen zu unterwerfen und seiner Sammlung wertvoller Kunstwerke hinzuzufügen.
Wütend starrte sie vor sich hin. Sie hatte sich ihm ausgeliefert, damit der Meledos endlich in die Obhut der Dan gelangen konnte, während ihm das Schicksal Algarads völlig gleichgültig schien. Auf keinen Fall würde sie ihm Achtung schenken, ganz egal, was er ihr versprach. Und welchen Grund hatte sie eigentlich noch, ihren Teil des Handels einzuhalten?
Vielleicht war eine Flucht doch nicht so unmöglich, wie sie bisher annahm. Sie durfte nur nichts überstürzen und musste ihre Planung langsam und mit Bedacht angehen, denn jeder Fehler konnte sich als verhängnisvoll erweisen. Aber selbst, wenn die Flucht misslingen sollte, so hätte sie wenigstens einen Versuch unternommen. Sie dachte gar nicht daran, sich tatenlos in ihr Schicksal zu fügen. Und letztlich lag es nur anihr selbst, ob sie vorschnell aufgab oder bis zum Ende für ihre Freiheit kämpfte.
Als der Abend graute, trat sie noch einmal an eines der Fenster und blickte hinaus. Die Sonne versank hinter den Hügeln im Westen, und die ersten Sterne tauchten am Firmament auf, von denen Eilenna einige wiedererkannte. Das Sternbild des Hirsches war das bekannteste unter ihnen, und sie erinnerte sich, wie Tenan oft danach Ausschau gehalten hatte. Nicht zum ersten Mal seit ihrer Entführung dachte sie an ihn und die kleine Gemeinschaft ihrer Gefährten, die sich vor nicht allzu langer Zeit zusammengefunden hatte. Wie mochte es den anderen wohl ergehen? War die Schlacht in Gondun siegreich verlaufen? Hatten Tenan und Urisk die Kämpfe überlebt?
Der junge Mann war draufgängerisch und konnte sein Ungestüm nur schwer im Zaum halten, aber er bewies auch Mut und Tapferkeit. Eilenna hoffte inständig, Dualar und Amberon behielten ihn im Auge und bewahrten ihn vor Schaden.
39
Seit Wochen hatten Stürme über der Insel Caithas Eri gewütet, doch seit sie sich vor zwei Tagen aufgelöst hatten, herrschte kühles und wolkenloses Wetter. Die Dächer der Türme und Häuser der Festung Meledin blinkten im Licht einer strahlenden Herbstsonne, nachts funkelten die Sterne wie Diamanten von einem eiskalten Himmel. Die nächsten Wolken würden Schnee bringen, das stand für die Bauern und Viehhirten fest. Die Inselbewohner gingen ihren gewohntenArbeiten nach, im Geiste waren viele von ihnen aber bei den Soldaten des Heeres, die weit entfernt in fremden Ländern einen Krieg gegen den
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