Der Ruf der Finsternis - Algarad 2
Eilenna. Zum ersten Mal seit Tagen kam er dazu, an das Mädchen zu denken, obwohl ihre Entführung stets wie ein schwarzer Schatten im Hintergrund seines Bewusstseins gelauert hatte. Ihr Verschwinden wühlte schmerzhaft in seiner Brust, und eine ohnmächtige Wut schwelte in seinem Inneren. Wiederholt verfluchte er die Tatsache, dass er ihre Entführung nicht hatte verhindern können,und der Wunsch, nach ihr zu suchen, hämmerte unablässig in seinem Kopf.
Nicht zum ersten Mal wünschte er sich in den Sattel eines Vyrons, um die Verfolgung des Südländers aufzunehmen und nach Shon zu fliegen, aber die Ställe der Tiere waren gut bewacht. Auch wusste er, dass er es niemals allein durch die Weiten des Himmels schaffen würde, denn die Südinseln lagen weit entfernt, und Tenan kannte ihre genaue Position nicht. Zudem konnte er seine Ausbildung nicht einfach abbrechen, ohne der Möglichkeit verlustig zu gehen, in den Dan-Orden aufgenommen zu werden. Er seufzte: Wie damals, als er Osyns Lehrling gewesen war, war er zur Untätigkeit verdammt.
Um sich von seinen trüben Gedanken abzulenken, stürzte er sich in die Arbeit und half dabei, Waffen und andere Ausrüstungsgegenstände zu verstauen, doch er blieb in sich gekehrt, antwortete nur das Nötigste und zog sich zurück. Dualar, der das bemerkte, rief ihn eines Abends außerhalb der üblichen Lehrstunden zu sich in seine Kabine.
Der Raum war groß und hatte früher wohl einem der ranghöheren Gredows gehört, was man unschwer an den reich mit Dämonenfratzen verzierten Einrichtungsgegenständen erkennen konnte. Dualar setzte sich in einen ausladenden Sessel, der aus schwarzem Holz gefertigt und über und über mit magischen Symbolen und den Darstellungen von Drachen und schrecklichen Fabelwesen bedeckt war, und ließ Tenan auf einem nicht weniger bizarren Stuhl gegenüber Platz nehmen. Tenan fühlte ich unwohl in dieser bedrohlich wirkenden Atmosphäre.
»Was ist los mit dir, Tenan?«, fragte Dualar ohne Umschweife und sah seinen Schüler prüfend an. »Seit die Schlacht zu Ende ist, bist du nicht mehr wie früher, dabei könntest du dichüber den errungenen Sieg freuen. Deine Heimat Gondun ist endlich vom Joch der Gredows befreit, die Dorfbewohner können nach Esgalin zurückkehren und es neu aufbauen. Du aber bist wortkarg und verschlossen und läufst mit hängendem Kopf herum.«
»Ihr wisst, was mich bewegt.« Mit leerem Blick starrte Tenan vor sich hin.
Der Hauptmann senkte den Kopf. »Natürlich«, sagte er leise, »es geht um Eilenna.« Er seufzte. »Sei versichert, ich fühle mit dir. Aber du darfst dich jetzt nicht zu stark von deinen Gefühlen beeinflussen lassen, nicht in Zeiten wie diesen.«
Tenan vergrub das Gesicht in den Händen. »Eilennas Entführung geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf«, murmelte er tonlos. »In jeder freien Minute quält mich die Sorge um ihr Wohlergehen.«
Dualar fragte sanft: »Du empfindest weit mehr für sie, als du dir eingestehen magst, nicht wahr?«
Tenan sah auf und errötete. »Ich ... das ... ich weiß es nicht«, stammelte er. »Welche Rolle spielt das schon? Ich weiß nur, dass ich ihr helfen muss. Wenn ich könnte, würde ich ihr folgen, aber ich weiß ja nicht einmal, wo ich nach ihr suchen soll.«
Er schwieg, und Dualar blickte ihn versonnen an. »Es gibt möglicherweise einen Weg, um herauszufinden, wo sich Eilenna befindet. Erinnerst du dich, dass ich in Eisgarth einmal erwähnte, ich würde dich dereinst besondere magische Künste lehren? Ich denke, die Zeit ist reif, dir die Kunst der akralith, der Seelenreise, beizubringen.«
»Eine Seelenreise?«, fragte Tenan erstaunt. »Ich habe eine solche schon einmal durchgeführt, damals im Labyrinth bei den Grauen Flüsterern, als ich nach dem Buch des Meisters suchte!«
»Ja, nur dass die Flüsterer dir damals Erenloth als Hilfsmittel zur Verfügung stellten«, erklärte der Hauptmann.
Tenan erinnerte sich: Die Grauen Flüsterer hatten ihn im Labyrinth auf die Suche nach dem verschollenen Buch des Meisters geschickt, indem sie ihn mit einem magischen Staub einhüllten, der es ihm ermöglichte, aus seinem Körper auszutreten und sich in Räume zu begeben, die auf gewöhnlichem Wege nicht zugänglich waren.
»Auf welche Weise könnte mir die Kunst der Seelenreise dabei helfen zu sehen, wie es um Eilenna steht?« Tenan beugte sich nach vorne wie ein Verdurstender, dem man eine Schale Wasser hinhält.
Dualar wiegte den Kopf und legte die Fingerspitzen
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