Der Ruf der Finsternis - Algarad 2
Fürsten des Todes kämpften, damit sie hier in Frieden leben konnten.
Amris, Tenans Freund aus Jugendtagen, rieb sich müde über die schweren Augenlider und setzte das Fernrohr ab. Seit Mitternacht schob er Wache am östlichen Hauptturm der Wehrmauer Meledins und starrte in die Dunkelheit. Schon längst hätte er von Deshan abgelöst werden müssen, aber wie gewöhnlich kam sein Kamerad zu spät zum Dienst. Amris schnaubte unwillig. Hauptmann Yar war viel zu gutmütig und würde in Zukunft wieder mehr auf Ordnung und Disziplin in seiner Truppe achten müssen.
Die nächtliche Wache war wie immer ereignislos und langweilig verlaufen, und Amris war froh, als die Morgendämmerung anbrach; er wünschte nichts sehnlicher, als in seine warme Koje im Mannschaftsraum zu klettern und zu schlafen.
Ein letztes Mal blickte er mit dem Fernrohr über den Horizont – nichts als Wellen unter einem endlosen grauen Morgenhimmel. Doch was war das? Irritiert hielt er inne, als er plötzlich einen schwarzen Punkt am Horizont ausmachte. Er sah genauer hin.
Was auch immer dort draußen sein mochte, es befand sich noch in großer Entfernung. Vielleicht war es ein Handelsschiff? Unwahrscheinlich. Normalerweise warteten die Kapitäne die Winterstürme ab und machten sich erst wieder im Frühjahr auf, um Waren zu verschiffen. Plötzlich teilte sich der schwarze Punkt zuerst in zwei, dann in vier auf – also handelte es sich sogar um mehrere Schiffe.
Abermals warf Amris einen Blick durch sein Fernrohr. Sie mussten sich noch in weiter Ferne befinden, obwohl ihre Segel,Masten und der Rumpf schon deutlich auszumachen waren. Das war ungewöhnlich. Amris kniff die Augen zusammen. Entweder die Abmessungen der Schiffe waren gewaltig, oder seine Sinne spielten ihm einen Streich und er hatte die Entfernung falsch eingeschätzt.
Er ließ das Glas über die Mastspitzen gleiten und suchte nach einer Flagge, doch da war keine. Seltsam. Alle Schiffe auf See, selbst die Piraten, führten eine Flagge, um ihre Herkunft oder ihre Absicht kundzutun, außer ... Amris erbleichte. Wie ein heißer Blitz durchzuckte ihn die plötzliche Erkenntnis. Das waren Dronth-Brecher! Achests Kriegsschiffe hatten Kurs auf die Hauptstadt des Reichs gesetzt! Wie war das möglich?
Seine Gedanken rasten. Meledins Verteidigung war durch den Abzug des größten Teils des Heeres geschwächt, wie sollte die Festung gegen die Truppen von vier vollbesetzten Dronths standhalten? Wie sollten sie sich gegen tausende von Gredows und schwere Katapulte verteidigen? Natürlich, die Wälle waren stark und die sechs Mauerringe konnten Eindringlinge eine lange Zeit abwehren, aber einem Dauerbeschuss mit Feuerkugeln würden auch sie niemals standhalten.
Einen Augenblick stand Amris schreckensstarr an der Mauer, dann wandte er sich um und rannte, zwei Stufen auf einmal nehmend, den Wehrturm hinab auf den Hof hinaus, in dessen Mitte ein hölzernes Gerüst mit einer bronzenen Glocke stand. Er ergriff das Seil, schwang es hin und her, und ein heller, durchdringender Ton schallte durch die Hafenviertel und hinauf in die höher gelegenen Festungsmauern.
Die anderen Wachen, die im Inneren der Festung Dienst taten, hielten inne und schauten sich überrascht an. Seit vielen Jahren war die alte Glocke nicht mehr geschlagen worden – sofort war allen klar, was das bedeutete. Geschwind eilten sie zuden großen, länglichen Hörnern, die auf den Steinmauern befestigt waren und bliesen aus vollen Lungen. In ohrenbetäubendem Vielklang hallte die Botschaft weit übers Land: Gefahr! Gefahr! Zu den Waffen! Meledin wird angegriffen!
40
Die Truppen der Dan-Ritter hatten ihre gesamte Ausrüstung aus der Bucht von Leremonth auf die Urthuk verladen. Das Schiff war so riesig, dass sie nicht annähernd alle Räume in Beschlag nehmen konnten. Gut zweitausend Mann richteten sich in den Kajüten und Mannschaftsräumen ein und versuchten, die düstere und bedrückende Atmosphäre des Schiffs zu ignorieren und aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen. Der Geist der Finsternis schien allgegenwärtig und senkte sich schwer aufs Gemüt der Dan-Krieger. Glücklicherweise hatte der Rauch des Ayk-Holzes wenigstens den betäubenden Geruch des schwarzen Wandanstrichs verringert, sodass man sich ohne Beschwerden im Inneren des Schiffs aufhalten konnte; gleichwohl hielten die Soldaten die Luken die meiste Zeit geöffnet und ließen so viel frische Luft und Licht wie möglich in die finsteren Räume.
Tenans Gedanken weilten bei
Weitere Kostenlose Bücher