Der Ruf der Kalahari - Mennen, P: Ruf der Kalahari
Litfasssäule und versuchte sie sich vorzustellen. Sie würde sich zwar in absehbarer Zeit niemals leisten können, dorthin zu fahren, aber niemand konnte ihr verwehren, die Belustigungen in ihrer Fantasie aufleben zu lassen. Besonders gefesselt war sie von der Ankündigung eines gewissen Dr. Hagenstolz. Er zeigte eine afrikanische Menagerie und Völkerschau, die aus ausgestopften Tieren, exotischen Kulissen und echten Bambusen aus
den Wüsten der deutschen Kolonie in Südwestafrika stammten: »Die wilden Hottentotten mit ihren Riesensterzen!«, wurden sie groß angekündigt. Darunter stand etwas kleiner: »Kommen Sie und überzeugen Sie sich selbst von den erstaunlichen Fähigkeiten dieser zwergwüchsigen Wilden. Nur ein Schnapsglas Wasser pro Tag reicht diesen primitiven Menschen, um in der unerbittlichen Wüste Afrikas zu überleben. Wie Kamele speichern sie das Wasser in ihren enormen Hinterteilen. Kommen Sie und sehen Sie die Wilden unserer Kolonien! Eintritt: 10 Pfennige pro Person. Kinder zahlen die Hälfte.«
Jella staunte. Wie gern hätte sie diese kleinen Hottentotten gesehen! Was sie wohl nach Berlin geführt hatte? In welcher Sprache unterhielten sie sich? Was brachte sie dazu, sich vor allen Menschen zur Schau zu stellen? Hatte man sie vielleicht eingefangen und gegen ihren Willen hertransportiert? Sklaverei war seit über dreißig Jahren verboten, aber wer wusste schon, ob in den Kolonien nicht andere Regeln galten? Je länger sie darüber nachdachte, desto weniger konnte sie sich vorstellen, dass die Wilden freiwillig nach Deutschland gekommen waren. Wie es bei ihnen wohl aussah? Ach, Afrika! Immer, wenn Jella an den fernen, schwarzen Kontinent dachte, wurde ihr ganz warm ums Herz. Rachel hatte ihr bereits als kleines Kind davon vorgeschwärmt. Wie oft waren sie gemeinsam in die Bibliothek gegangen und hatten sich dort Bildbände mit Lithografien und sogar Fotografien angesehen. Sie hatten sich immer vorgestellt, wie es wohl wäre, jetzt dort zu sein. Damals war ihre Mutter noch der festen Überzeugung gewesen, dass Johannes sie bald nachholen würde. Aber Jahr um Jahr war seither verstrichen, ohne dass sie irgendetwas von Jellas Vater gehört hätten. Jella und ihre Mutter hatten sich irgendwann damit abgefunden, dass Johannes von Sonthofen tot war. Der alte Baron war wie immer anderer Meinung. Er behauptete steif und fest, dass Johannes sie einfach vergessen hätte.
Jella hatte endlich den Wohnblock erreicht, in dessen hinterstem Winkel sie wohnten. Sie durchschritt den runden Torbogen, der in den ersten Hinterhof führte. Im Vorderhaus, zur Straße hin lagen die teuren Wohnungen mit großzügigen Zimmern und lichten Fenstern.
Darauf folgten der erste und dann auch der zweite Hinterhof. Je weiter sie in das Innere des Mietshauskomplexes vordrang, desto kleiner wurden die Höfe und desto weniger Licht drang hinein. Der dritte Hinterhof war nur noch hoch und dunkel. Es roch nach altem Kohl, Scheuermittel und Fäkalien. Irgendjemand hatte wieder einmal die Tür zum hölzernen Klohäuschen im Hof offen gelassen. Der letzte Hinterhof war gerade mal groß genug, dass der Spritzenwagen der Feuerwehr dort umdrehen konnte. Das war Vorschrift. Dafür waren hier die Wohnungen am billigsten. Am schäbigsten waren die Kellerwohnungen; in einer von denen hausten Jella und ihre Mutter. Sie waren nicht nur dunkel, sondern auch noch feucht. Vor zwei Monaten hatten sie es notgedrungen bezogen. Das helle Zimmer im zweiten Hinterhof hatten sie verlassen müssen, nachdem ihre Ersparnisse aufgebraucht gewesen waren. Pischke hatte ihnen daraufhin vorgeschlagen, sich einen Schlafburschen zu besorgen. Doch das hatten sie entschieden abgelehnt. Allein die Vorstellung, dass eine fremde Person tagsüber, während sie nähten, in ihrem Bett lag, womöglich ungewaschen und mit Flöhen, ekelte sie. Es war schon jetzt schwer genug, der Wanzenplage Herr zu werden.
Jella steuerte auf den seitlichen Kellereingang zu. Hier mischte sich der Geruch von dünner Kohlsuppe mit dem Gestank der überquellenden Mülleimer. Sie wollte gerade die Treppen zur Kellertür hinabsteigen, als eine nicht zu überhörende Gasthausstimme sie aufhielt.
»Halt, stehen geblieben!«, forderte die Stimme sie auf.
Jella blieb wie vom Donner gerührt stehen. August Pischke hatte sie kalt erwischt!
Wie hatte sie nur so nachlässig sein können! Anstatt wie ein Schießhund aufzupassen, dass sie dem Hausmeister nicht begegnete, hatte sie
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