Der Ruf der Kalahari - Mennen, P: Ruf der Kalahari
vor.
»Haben Sie gerade Vater gesagt?«
Allein die Vorstellung, dass es wahr sein könnte, ließ ihn schwindeln. Dann wurde ihm die Unwahrscheinlichkeit dieses Gedankens bewusst, und er fügte flüsternd hinzu: »Ich habe leider keine Tochter.«
Voller Bestürzung nahm er wahr, wie sich die Augen der jungen Frau mit Tränen füllten. Wie leid sie ihm tat! Aber es war die Wahrheit.
»Großvater hat dich belogen«, sagte die junge Frau mit tränenerstickter Stimme. Auch ihr fielen die Worte schwer. »Rachel war von dir schwanger.«
»Nein!«
Die Erinnerung flammte heftig in ihm auf und erfüllte ihn mit neuen Qualen. Selbst wenn diese Frau Rachels Tochter war, so konnte sie nicht von ihm sein. Sie war viel zu jung. Sie war erst eineinhalb Jahre nach seinem Weggang geboren. Sein Vater hatte es ihm selbst geschrieben.
»Großvater hat mich in seinen Briefen absichtlich jünger gemacht, damit du auch ganz bestimmt von seinen Lügen überzeugt warst und meine Mutter vergessen konntest. Er hat dich genauso betrogen wie meine Mutter und mich. Rachel hat es immer geahnt, konnte es aber nie beweisen. Sie hat immer an dich geglaubt. Das hat sie mir selbst in ihrer Todesstunde noch gesagt.«
Die Worten tröpfelten wie dicke Regentropfen in sein staubiges Gehirn. Erst als die Trockenheit sie aufgesogen hatten und sie auf fruchtbaren Boden gesunken waren, begriff er langsam ihre Bedeutung. Rachel war tot. Das war die erste, bittere Gewissheit, die sich ihm erschloss. Er würde sie nie wieder sehen. Doch damit hatte er sich schon längst abgefunden. Allerdings hatte sie ihm dafür etwas anderes hinterlassen. Johannes richtete sich mühsam auf
und setzte sich hin. Rachel war nicht für immer fort. Sie lebte auf ihre Weise in dieser jungen Frau weiter. Eingehend betrachtete er sie, nahm ihre limonengrünen Augen wahr, die seinen so ähnelten, bemerkte ihre roten Haare, die er ihr ebenfalls vererbt zu haben schien, und genoss Rachels Züge, die sich auf eigenwillige Art und Weise in ihrem Gesicht wiederfanden. Ein neues, starkes Gefühl begann sich seiner zu bemächtigen, ein Gefühl, das er schon lange nicht mehr empfunden hatte; es war das Gefühl von Glück und Dankbarkeit. Seine Lippen suchten nach Worten, doch sie blieben ihm versagt. Stattdessen nahm er seine Tochter fest in die Arme.
Tränensteine
In scharfem Tempo waren sie bis Erindi durchgeritten. Sie hatten sich unterwegs nur wenige kurze Pausen gegönnt und waren immer wieder an ihre eigenen Grenzen gestoßen. Leutnant Bausch und seine Leute standen am Rande der Erschöpfung, und auch Fritz hielt sich nur noch mit Mühe auf seinem Wallach. Sein Armstumpf pochte von der außergewöhnlichen Anstrengung und schmerzte entsetzlich. Doch das war nichts im Vergleich zu den Sorgen, die er sich um Jella machte. Bei den Felsen von Erindi waren sie auf keinerlei Spuren gestoßen. Die Enttäuschung war auf allen Seiten sehr groß. Leutnant Bausch lenkte sein Pferd neben Fritz.
»Meine Männer und die Pferde brauchen eine längere Verschnaufpause«, erklärte er ohne Umschweife. »Bevor wir nicht alle wieder zu Kräften gekommen sind, werden wir nicht weitersuchen.«
»Aber es geht um Leben und Tod!«, entgegnete Fritz verzweifelt. Seine Augen funkelten vor Empörung. Wie konnte Bausch in Anbetracht dieser Situation an Ausruhen denken?
Bausch zuckte mit den Schultern.
»Tut mir leid, aber ich bin für meine Truppe verantwortlich. Die Männer und ihre Tiere sind ausgelaugt und müssen sich erholen. Wir reiten frühestens in vier Stunden weiter.«
Er gab seinen Leuten den Befehl zum Absitzen.
Fritz schnaubte wütend.
»Wenn Fräulein von Sonthofen etwas zustoßen sollte, dann mache ich Sie persönlich dafür verantwortlich!«
Mit diesen Worten gab er seinem Pferd die Sporen und preschte davon. Es dauerte eine Weile, bevor er sich beruhigt hatte. Natürlich hatte Leutnant Bausch recht. Die Männer und Pferde waren am Ende. Sie brauchten dringend eine Pause. Wenn er seinen Wallach noch mehr geschunden hätte, wäre er unter seinen Beinen zusammengebrochen. Notgedrungen hielt er unter einer großen Schirmakazie an und ließ seinem Pferd die Zügel, damit es an den gelben Wüstengräsern rupfen konnte. Hatte die Himbafrau ihn belogen? Er glaubte es nicht. Sie schien wie er regen Anteil an Jellas Schicksal zu nehmen. Aber warum waren sie nicht auf die Spuren der Greenwoods gestoßen? Er versuchte sich in ihre Lage zu versetzen. Was würde er tun, wenn er jemanden
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