Der Ruf der Kalahari - Mennen, P: Ruf der Kalahari
vieles erkennen.«
»Das darfst du nicht tun! Das hier ist unsere Heimat.« »Hagenstolz hat mir versprochen, mich wieder zurückzubringen. Ich werde nicht für immer weg sein.«
»Er hat dich mit seinen Worten verzaubert. Es ist falsch!«
»Es ist falsch, wenn ich hierbleibe«, sagte Sheshe bestimmt. Sie hatte ihre Entscheidung längst getroffen. »Du hast die volle Kraft des Num in dir, ich besitze nur einen kleinen Teil. Du kannst den Weg der Erkenntnis im Land unserer Väter gehen. Ich muss ihn woanders suchen. Eines Tages wirst du es verstehen.«
Nakeshi versuchte noch mehrere Male, ihre Tante von ihrem Vorhaben abzubringen, aber es war vergeblich. Mit Tränen in den Augen verabschiedete sie sich schließlich von ihr und beobachtete, wie sie auf dem holpernden Gefährt am Horizont verschwand.
Die Vision
»Elite-Vergnügungs-Park: Schaustellungen aller Art. Eingang hier!«
Die gedruckte Schrift auf der weißen Stoffbahn schwang zwischen zwei gusseisernen Laternenmasten. Voller Vorfreude betrat Jella den Park. Während im Hintergrund die Stadtbahn ratterte, die Schornsteine der Fabriken ihren schwarzen Ruß in den Himmel qualmten und die graugelben Häuserfassaden vom tristen Alltag erzählten, öffnete sich vor ihr eine neue, bunte Welt. Im Gegensatz zu draußen schien die Welt hier nur aus Vergnügungen zu bestehen; selbst an einem Montag, an dem anständige Menschen beim Arbeiten waren. Aus dem bunten Wirrwarr aus Zelten und Schaubuden drang Grammophonmusik und vermischte sich mit den Klängen einer Bläserkapelle zu einer kakophonischen Geräuschkulisse. Ein bärtiger Leierkastenspieler mit einem angezogenen Äffchen auf seinen Schultern stimmte mit ein. Er stand ganz in der Nähe des Eingangs. Sobald er Jella erblickte, begann er zu singen. Seine fistelige Tenorstimme schepperte, was seiner Darbietung eine gewisse komische Dramatik verlieh. An einem Ständer neben ihm hing ein zusammenrollbares Plakat, auf dem in mehreren Szenen eine Geschichte abgebildet war. In dieser Moritat ging es um ein anständiges Mädchen - die Tochter des Dorfbürgermeisters -, das von einem wandernden Schustergesellen geschwängert und dann verlassen worden war. Aus Gram vor der ihr angetanen Schande hatte sie sich in die Spree gestürzt, ausgerechnet
an dem Tag, an dem der Schustergeselle sich doch noch eines Besseren besonnen hatte und sie zur Hochzeit abholen wollte.
»So eine dumme Geschichte«, ärgerte sich Jella. Für so offenekundig scheinheilige Moralgeschichten hatte sie überhaupt nichts übrig. Der Leierkastenmann war wohl anderer Ansicht. Er deutete auf das leere Kästchen vor sich. In diesem Moment sprang das Äffchen von seinen Schultern auf den Musikkasten, schnappte sich das Geldkästchen und wedelte damit vor Jellas Nase herum. Jella machte, dass sie weiterkam. Die fünfzig Pfennige, die Heinrich Zille ihr so großzügig spendiert hatte, wollte sie garantiert auf andere Weise loswerden. Ach, wie sie sich freute! Sie konnte immer noch nicht glauben, dass sie mitten auf dem Rummel der Jungfernheide stand. Das Ganze kam ihr nach den Erlebnissen der letzten Zeit völlig unwirklich vor.
Nach den letzten Monaten voller Schufterei genoss Jella ihren ersten freien Tag. Sie hatte wirklich ihr Äußerstes gegeben. Jeden Tag von Sonnenaufgang bis kurz vor Mittag hatte sie mit ihrer Mutter an den Näharbeiten gesessen. Darauf folgte stets die Arbeit in der Destille. Sie musste den Abwasch vom Vortag erledigen, den Schankraum putzen und der Köchin zur Hand gehen. Sobald die ersten Gäste kamen, hatte sie sich um diese zu kümmern. Das ging so fort bis in den späten Abend hinein. Wenn sie von der vielen Rennerei völlig erschöpft nach Hause kam, hatte sie das Gefühl, Berlin mindestens dreimal umrundet zu haben. In der ersten Zeit war sie wie tot aufs Bett gesunken und sofort eingeschlafen. Mittlerweile hatte sie sich einigermaßen an den harten Alltag gewöhnt. Sie freute sich sogar auf ihre Arbeit in der Destille, schon deshalb, weil es ihr Gelegenheit bot, wenigstens für ein paar Stunden der Traurigkeit ihrer düsteren Kellerwohnung zu entkommen. Auf der anderen Seite hatte sie natürlich ein schlechtes Gewissen, ihre kranke Mutter so lange allein zu lassen. Aber Rachel unterstützte sie und meinte, dass es ihr nur guttäte, auch mal auf andere Gedanken
zu kommen. Immerhin hatte sich ihr Gesundheitszustand dank der Medizin etwas verbessert. Sie hustete zwar immer noch erbärmlich, doch sie litt nicht mehr so
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