Der Ruf der Kiwis
irgendeinem idyllischen Plätzchen. Aber Ben und Lily wollten sich an ihren Uferspaziergang in England erinnern und kämpften sich folglich aus Gründen der Romantik über Böschungen und durch halb verrottetes Unterholz. Lilians Augen leuchteten auf, wenn Ben ihr ritterlich über Bodenunebenheiten hinweghalf, die sie gewöhnlich auch allein bewältigt hätte. Die kleine, koboldhafte Lilian war geschickter auf den Beinen als der schlaksige Ben. Wenn gerade keine Hindernisse zu überwinden waren, plauderten die beiden angeregt über ihre Zukunftspläne. Ben erläuterte wortreich, dass er gar nicht so unglücklich über seine Rückkehr nach Neuseeland war. Die Universitäten in Dunedin, Wellington oder Auckland boten deutlich bessere Forschungsmöglichkeiten in dem Bereich der Sprachwissenschaft, der ihn interessierte.
»Polynesische Sprachen. Jede Insel hat im Grunde ihre eigene, auch wenn natürlich Verwandtschaften bestehen. Aber gerade da liegt die Chance – wenn man Maori mit den anderen Sprachen vergleicht, müsste sich das Herkunftsgebiet der ersten Siedler auf Neuseeland eingrenzen lassen ...«
Lilian hing an seinen Lippen, obwohl sie kaum ein Wort Maori sprach. Bis kurz zuvor war es ihr auch herzlich gleichgültig gewesen, wo das sagenhafte Land »Hawaiki« gelegen hatte. Ihrem romantischen Gemüt reichte die Geschichte der Heimkehr der Seelen über Cape Reinga. Aber wenn Ben darüber redete, war das natürlich etwas anderes.
Lilian selbst erzählte von ihrem Aufenthalt auf Kiward Station, wo sie trotz der Trauerfälle wieder sehr glücklich gewesen war. Sie wünschte sich, eines Tages auf einer Farm zu leben, viele Tiere um sich zu haben und »massenhaft« Kinder.
Ben hing an ihren Lippen, obwohl er weder Katzen noch Hunde besonders mochte und sich stets überwinden musste, bevor er auf ein Pferd stieg. Autos gefielen ihm deutlich besser, obwohl er bis jetzt nie eines selbst gelenkt hatte. Und kleine Kinder? Bisher hatte er ihren Lärm eher lästig gefunden. Aber wenn Lilian vom Familienleben schwärmte, war das natürlich etwas anderes.
Sie schrieb ihrer Freundin in England einen langen Brief, in dem sie ausführte, wie viel Ben und sie gemeinsam hatten, und Ben schwärmte in einem neuen Gedicht vom Treffen verwandter Seelen.
3
Gwyneira McKenzie zog sich zum Abendessen um, wobei sie neuerdings gern die Hilfe eines ihrer Maori-Hausmädchen annahm. Bis vor kurzem hatte sie ihr Alter kaum gespürt, doch nach den Vorfällen der letzten Wochen fühlte sie sich oft zu erschöpft und ausgelaugt, um ihr Korsett anzulegen und ihr weites Tageskleid mit einem eleganteren Kostüm zu vertauschen. Dennoch tat sie es an diesem Tag, obwohl sie eigentlich nicht wusste, warum sie überhaupt an der Tradition festhielt, die sie als junge Frau mit Pionierambitionen als lästig und unpraktisch empfunden hatte. Schließlich würde sie die Tafel nur mit ihrem einsilbigen, unglücklichen Sohn teilen, dessen Verzweiflung ihr immer wieder ins Herz schnitt. Auch sie trauerte; sie vermisste James mit jeder Faser ihres Herzens. Er war ihr zweites Ich gewesen, ihr Spiegel, ihr Schatten. Sie hatte mit ihm gelacht und gestritten; seit sie endlich zusammengefunden hatten, waren sie kaum einen Tag getrennt gewesen. Aber James’ Verlust hatte sich abgezeichnet. Er war einige Jahre älter gewesen als Gwyneira und in den letzten Jahren zusehends hinfälliger geworden. Charlotte dagegen ... Jack hatte auf ein langes Leben mit ihr gehofft. Sie hatten Kinder gewollt, Pläne gemacht ... Gwyneira konnte sehr gut nachvollziehen, dass Jack untröstlich war.
Sie biss sich auf die Lippen, während das Hausmädchen Wai die letzten Knöpfe ihres Kleides schloss. Manchmal empfand sie fast ein bisschen Wut auf ihre Schwiegertochter. Natürlich konnte Charlotte nichts für ihre Krankheit. Aber ihre einsame Entscheidung in Cape Reinga hatte sie zu abrupt von Jacks Seite gerissen. Er hatte keine Zeit gehabt, Abschied zu nehmen und sich an den Gedanken zu gewöhnen, Charlotte zu verlieren. Andererseits konnte Gwyn Charlottes Entschluss nur zu gut verstehen. Auch sie selbst hätte einen schnellen Tod dem langsamen, qualvollen Ende vorgezogen, das die junge Frau vor sich gesehen hatte.
Seufzend ließ sie zu, dass Wai ihr einen schwarzen Schal um die Schultern legte. Seit James’ Tod trug Gwyneira Trauer – wieder ein Brauch, an dem sie festhielt, obwohl er eigentlich sinnlos war. Sie musste ihr Leid nicht demonstrieren. Jack war es egal; er selbst
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