Der Ruf der Pferde
»Wir haben uns schon mal getroffen, weißt du noch?«
Dallis schaute sie unverwandt an, die Ohren aufmerksam aufgestellt.
Und dann stupste sie gegen Patricias Hand.
Patricia merkte, wie ein Kloß in ihrem Hals steckte. Das Pony mochte sie!
Bisher hatte sie noch nie weiter darüber nachgedacht, ob die Pferde, die sie so liebte, sie ebenfalls sympathisch fanden. Unbefangen war sie immer auf die Tiere zugegangen und Goldie beispielsweise hatte sich ganz offensichtlich gefreut, wenn Patricia zu ihr kam. Doch niemals hatte sie sich die Frage gestellt, ob es tatsächlich ihre Person war oder die Karotten, die sie mitbrachte, oder einfach Langeweile, die das Pferd ihre Gesellschaft und eine Beschäftigung genießen ließ.
Aber dieses zurückhaltende Pony nun . . .
Patricia merkte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Mit weicher Hand streichelte sie die samtigen Nüstern der kleinen Stute. Patricia schluckte, als Dallis ihre Nase in ihre Handfläche drückte und leise prustete. Sie war nicht mehr ganz jung, das erkannte Patricia nun deutlich, aber offensichtlich ein sehr freundliches Tier. Das Fell des Ponys fühlte sich weich an, als Patricia seinen Hals streichelte. Mutiger geworden, schob sie ihre Hände unter die dicke Mähne, doch als sie dort feuchte Wärme spürte, zogen sich ihre Brauen unwillkürlich zusammen. Die kleine Stute schwitzte noch nach dem Ausritt. Wie konnte ihre Reiterin sie einfach so stehen lassen und weggehen!
Aufmerksam betrachtete Patricia das Pferdchen genauer und stellte fest, dass auch weder der Sattelgurt gelockert noch die Steigbügel hochgeschnallt waren. Das gab es doch wohl nicht!
Patricia merkte, wie in ihr der Zorn aufstieg. Doch sie wusste, dass sich solche Stimmungen dem Tier sofort mitteilen würden, deshalb beherrschte sie sich.
»Ich glaube, da hat jemand was vergessen«, sagte sie daher in leichtem Ton und sah sich suchend um, ob vielleicht schon jemand unterwegs war, das Versäumte nachzuholen.
Doch alle anderen Kinder waren mit ihren eigenen Ponys zugange und die Reiter für die nächste Stunde waren noch nicht eingetroffen.
Patricia biss sich auf die Lippe.
Dann entschied sie sich.
»Na, Patricia, ist eure Reitstunde beendet?« Damians Stimme schallte hinter ihr.
»Ja, für heute schon.« Patricia ließ sich jedoch nicht stören, sie rieb weiter mit ruhigen, kräftigen Bewegungen die graue Stute trocken, nachdem sie zuerst das Sattelzeug für die Pause gerichtet und ihr dann einen kleinen Eimer Wasser gebracht hatte.
Damian lehnte sich an den Balken und schaute ihr zu.
»Du kennst dich aus, wie ich sehe.«
Patricia wollte darauf eigentlich gar nicht antworten, aber dann brach es doch aus ihr heraus. Sie richtete sich auf und blickte Damian mit blitzenden Augen an.
»Jedenfalls weiß ich, dass man ein Pferd nach dem Ausritt nicht einfach schwitzend stehen lässt!«
Damian warf einen Blick auf die Stute. Dann seufzte er.
»Emily hat sie geritten, richtig?«
»Ich weiß nicht, wie das Mädchen heißt«, gab Patricia scharf zurück. »Aber sie scheint sich zu fein dafür zu sein, sich nach dem Reiten um ihr Pferd zu kümmern.« Sie wies auf die anderen Kinder. »Die hier machen es doch auch. Braucht Emily wohl einen eigenen Stallburschen oder was?«
»Du hast natürlich recht«, sagte Damian und seufzte noch mal. »Solche wie sie haben wir hier immer mal wieder, das bleibt nicht aus.«
»Und das lässt du durchgehen?«
»Was soll ich denn machen?« Er breitete entschuldigend die Arme aus. »Der Kunde ist König. Sie bezahlt fürs Reiten, alles andere ist freiwillig. Die meisten sind ja von sich aus ganz wild darauf, die Ponys zu versorgen. Aber wir können niemanden zwingen.«
»Dann musst du eben dafür sorgen, dass es jemand anderes macht.« Patricia strich Dallis über die Stirn. »Aber ein Pferd einfach sich selbst zu überlassen, nur weil Madame sich nicht die Finger schmutzig machen will und es als zahlende Kundin auch nicht muss, ist keine Entschuldigung, finde ich.«
»Du hast recht«, sagte Damian wieder und seinem Gesichtsausdruck war deutlich zu entnehmen, dass ihm das Thema unangenehm war. Doch dann hellte sich seine Miene auf. »Aber zum Glück bist du ja vorbeigekommen und kümmerst dich um das Pony.«
»Ja, zum Glück.« Patricias Ton war ironisch und gern hätte sie noch hinzugefügt: Glück für wen? Für Damian oder für Dallis?
Doch eine leichte Berührung an ihrem Arm ließ sie die Bemerkung verschlucken. Dallis wollte
Weitere Kostenlose Bücher