Der Ruf der Pferde
einfach etwas über den Schädel hauen und sie dann gefesselt und geknebelt irgendwo einsperren. So würden sie es zumindest in einem Film machen. Solche Methoden kamen bloß leider im wirklichen Leben nicht infrage, was Patricia in diesem besonderen Fall ehrlich bedauerte. Echt jammerschade, dachte sie, als sie sich die entsprechende Szenerie vorstellte. Da würde Emily ganz schön dämlich gucken, dachte Patricia. Emily verließ sich viel zu sehr darauf, dass die anderen fair blieben und nicht Gleiches mit Gleichem vergalten. Wehe allerdings, jemand setzte sich über diese ungeschriebenen Regeln hinweg! Dann wurde gleich Zeter und Mordio geschrien!
Wie gestern.
Patricia bedauerte zutiefst, dass sie derart die Beherrschung verloren hatte. Sie schämte sich schrecklich. Das letzte Mal hatte sie sich im Kindergarten geprügelt, als ein älterer Junge versucht hatte, ihr und Gavin ihre neue Spritzpistole wegzunehmen. Davon einmal abgesehen, fand sie es allerdings interessant zu beobachten, wie augenblicklich doch Emilys Selbstherrlichkeit zusammengebrochen war, als Patricia, der sie sich so unantastbar überlegen glaubte, plötzlich auf sie losging.
Tja, und da heulte die damenhafte Emily dann wie ein kleines Kind, dachte Patricia geringschätzig. Klarer Fall von großer Klappe – nichts dahinter! Vielleicht überlegte sie es sich das nächste Mal etwas gründlicher, bevor sie wieder jemanden bis aufs Blut reizte. Jetzt hatte sie ja gemerkt, dass so was auch schiefgehen konnte.
Bloß Dallis nützte das alles nichts. Im Gegenteil, jetzt würde Emily ihre Rachsucht erst recht an ihr austoben.
Patricia seufzte.
Sie konnte nichts tun. Gar nichts.
Ethan musste sie zweimal ansprechen, bevor Patricia sich umdrehte.
»Ach hallo, du bist’s!« Ihr Ton war durchaus freundlich, doch sie benötigte einige Augenblicke, bis sie ihre offensichtliche Geistesabwesenheit überwand.
Überrascht registrierte sie, wie sehr sie sich über Ethans Anblick freute.
Doch Ethan merkte sofort, dass sie etwas bedrückte.
»Was ist mit dir?« Seine Stimme hatte einen besorgten Ton. »Ist etwas passiert?«
Patricia schwieg eine ganze Weile. Sie konnte sich doch nicht bei Ethan auskotzen, dachte sie bei sich. Sie kannte ihn schließlich kaum. Wie sollte sie sicher sein, dass er sie nicht auslachte oder sich gar auf die Gegenseite schlug?
Ethans Gesicht zeigte jedoch so viel Anteilnahme und ehrliches Interesse, dass sie schließlich seufzte.
»Es geht um Dallis.«
»Dallis?«
»Eines der Ponys.« Sie wies auf die Koppel und schüttelte den Kopf, als Ethan suchend seinen Blick schweifen ließ. »Nein, sie ist momentan nicht da. Eine graue Stute, schon ein bisschen älter. Sie ist für mich . . .«
Sie brach ab. Wie sollte sie Ethan erklären, was Dallis für sie war?
Doch Ethan schien zu verstehen. »Sie bedeutet dir sehr viel«, nickte er.
»Ja.« Patricia schaute in die Ferne. »Und ich bin schuld daran, dass sie leidet.«
Ethan sah sie verblüfft an. »Wie denn das? Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Es ist aber so.« Patricia hob den Blick zu ihm, ihr Gesicht drückte Trostlosigkeit aus.
»Erzähl«, sagte Ethan ruhig.
Und Patricia erzählte.
Sie ließ nichts aus und beschönigte nichts, selbst als sie schließlich die hässliche Szene vom Vortag beschrieb. Sie sah Ethan nicht an, während sie berichtete, wie sie komplett ausgerastet war und Emily angegriffen hatte. Sie hätte den Ausdruck des Abscheus, den er dabei sicher empfinden musste, nicht ertragen.
Als sie geendet hatte, trat Schweigen ein.
Nach einem langen Moment blickte Patricia auf.
»Und? Hab ich toll hingekriegt, nicht wahr?« In ihren Augen lag blanke Verzweiflung.
»Hm«, meinte Ethan nachdenklich. »Blöde Sache, das Ganze.«
»Du denkst jetzt bestimmt auch, dass ich spinne, oder?«
»Unsinn!« Ethan schüttelte den Kopf. Zu Patricias Erleichterung konnte sie aus seiner Miene nichts Negatives herauslesen. Sie fasste deshalb ein klein wenig Mut.
»Also, dass du nicht zulassen wolltest, dass Dallis gequält wird, ist doch klar«, stellte Ethan sachlich fest. »Tierquälerei ist ja wohl wirklich das Allerletzte. Bei so was sollte eigentlich jeder vernünftige Mensch einschreiten. Leider tun das bloß die wenigsten. Viele sagen sich, dass es sie nichts angeht und sie sich lieber raushalten sollten. Aber du hast den Mut gehabt, alle Achtung!«
Patricia lächelte schwach. »Ich konnte es einfach nicht ertragen, dass Emily Dallis wehtut.«
»Ist doch
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