Der Ruf der Pferde
zu lassen«, wiederholte Damian. »Das ist doch der Zweck der ganzen Übung. Alles andere dient nur dazu, uns zu zeigen, was passiert, falls wir nicht tun, was er von uns verlangt. Die einzige Institution mit der Berechtigung, die Tötung eines Tieres so einfach anzuordnen, ist allerdings . . .«
». . . der Amtstierarzt.« Ethan starrte vor sich hin. »Deshalb sagtest du auch, ein Gegengutachten käme sowieso nicht mehr rechtzeitig.«
»Eben«, versetzte Damian. »Wenn also übermorgen der Amtstierarzt hier im Stall die Diagnose trifft, dass das Pferd eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, so ist er berechtigt, es sofort einzuschläfern.«
Ethan nickte stumm. Besorgt betrachtete er Patricia. Wie mochte sie sich fühlen?
Ihr Gesicht war starr und geradezu gespenstisch bleich.
Ethan tastete nach ihrer Hand. »Patricia . . .?«
»Ich hab’s gewusst«, flüsterte sie. »Ich habe gleich gesagt, das geht schlimm aus.«
Sie weinte nicht, aber in diesem Moment wäre Ethan sogar froh gewesen, wenn sie es getan hätte. Weinen half manchmal, so hieß es doch.
Er überlegte verzweifelt, was er sagen konnte, um sie zu trösten.
»Vielleicht gibt’s ja doch noch einen Weg«, meinte er hilflos.
Doch Damian schüttelte den Kopf. »Ich sehe leider keinen. Ich fürchte, wir müssen uns damit abfinden.«
Patricia blickte auf. Ihre Augen waren riesengroß und leer.
»Und ich bin schuld daran!«
»Hör auf, dir so einen Unsinn einzureden!« Ethan sprach absichtlich heftig. Vielleicht rüttelte sie das ein wenig auf. »Das ist doch absoluter Quatsch!«
»Nein, es ist wahr.« Patricia richtete ihren Blick auf Ethan. »Ich hätte das Ganze verhindern können. Aber ich hab’s nicht getan. Weil ich zu feig war und mich zu verbissen an mein Selbstmitleid geklammert habe.«
Ethan verstand nicht im Geringsten, was sie meinte.
Damian zog hingegen die Brauen zusammen, drehte Patricia an den Schultern zu sich herum und sah ihr scharf ins Gesicht. »Ich nehme an, du meinst diese merkwürdige Sache, dass du um nichts in der Welt reiten wolltest, stimmt’s? Du glaubst, du hättest die Ereignisse verhindern können, wenn du Dallis selbst geritten hättest und sie dadurch für Emily nicht verfügbar gewesen wäre, nicht wahr?« Trotz seiner direkten Worte sprach Damian in verständnisvollem Ton und Ethan begann zu ahnen, dass hinter der so unbekümmerten Fassade des Reitlehrers doch mehr steckte als bisher angenommen.
Patricia starrte Damian an. Dann nickte sie.
»So«, sagte Damian, nahm sie beim Arm und zog sie zu einer Gruppe Steinblöcke, auf denen die Kinder sonst gern saßen, während sie auf ihre Reitstunde warteten. Im Moment waren sie allerdings verwaist und Damian drückte Patricia auf einen der Steine hinunter und nahm selbst auf einem anderen Platz. »Und jetzt erzählst du mir endlich, was passiert ist«, meinte er. »Und aus welchem Grund du nicht mehr reiten willst.« Er hob die Hand, als Patricia etwas einwenden wollte. »Ich weiß, es geht mich nichts an. Das wolltest du doch gerade sagen, nicht? Es interessiert mich allerdings nicht aus Neugierde. Ich habe nur das Gefühl, als wäre da Einiges, was dich verdammt belastet. Und ich denke, es wäre mal langsam an der Zeit, damit rauszurücken, findest du nicht?«
Patricia schwieg und betrachtete ihre Hände, die sie im Schoß zusammenkrampfte.
Ethan hatte sich stumm neben sie gesetzt. Doch er wagte nicht, sie zu berühren.
Damian sah sie auffordernd an. »Es hilft doch nichts, wenn du dich die ganze Zeit damit rumquälst.«
Patricia schwieg noch immer. Sie hielt die Augen gesenkt und knetete unaufhörlich ihre Finger, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Ethan sah, wie es in ihr arbeitete, und er wünschte von Herzen, ihr irgendwie helfen zu können.
Nach einer ganzen Weile hob Patricia auf einmal den Kopf und sah Damian direkt in die Augen.
»Also gut«, sagte sie entschlossen, obwohl ihre Stimme leicht brüchig klang.
Und dann erzählte sie es.
Als Patricia geendet hatte, herrschte Stille.
Auf Damians normalerweise fröhlichem Gesicht lag Betroffenheit. Auch Ethan verstand nun im Nachhinein einiges an Patricias Verhalten besser. Das leichte Gefühl von Verärgerung, weil sie ihm nie etwas davon erzählt hatte, unterdrückte er schnell wieder – es war wohl zu schmerzhaft für sie und vermutlich hätte er sich selbst in so einer Lage auch nicht anders verhalten.
Patricia selbst schien nach ihrem Bericht äußerlich unverändert und einigermaßen
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