Der Ruf der Pferde
außerhalb der Reitstunden stets selbst entscheiden können, ob es grasen, ruhen, herumgaloppieren oder einfach gar nichts tun wollte. Der weiche grüne Untergrund war ebenso wie der Regen und die rauen Winde der Highlands ihre vertraute und naturgewollte Heimat. In der Stadt hingegen bestand für ein Pferd der größte Teil des Tages aus Warten. Warten darauf, dass jemand kam, es sattelte und mit ihm ein paar Runden in der Halle oder auf dem Reitplatz drehte. Nur selten ging es dabei ins Gelände, aber dann handelte es sich normalerweise um befestigte Reitwege im Park oder Stadtwald – ein wilder Galopp über steinige Hänge und grüne Wiesen in Wind und Regen war völlig ausgeschlossen.
Oder Warten auf die Fütterung: Statt sich frisches Gras selbst suchen und abrupfen zu können, wenn ihm der Sinn danach stand, wurde ein Stadtpferd zu festgelegten Zeiten mit industriell verarbeitetem Körner-und Raufutter versorgt, welches ohne jede eigene Anstrengung nur noch herunterzukauen war. Von seinen Artgenossen trennten das Pferd dabei stets entweder die Gitterstäbe der Boxen oder die wachsame Zügelführung seines Reiters – niemals durfte es seine natürlichen sozialen Instinkte ausleben, Freundschaften schließen oder Ranggefechte durchführen.
Eigentlich ein recht trauriges Dasein, wenn man sich das mal genauer vor Augen führte, dachte Patricia. Doch die Pferde in der Stadt kannten es meist nicht anders, und was man nicht kannte, vermisste man wohl auch nicht.
Sie war sich allerdings darüber im Klaren, dass so ein Dasein für Dallis eine große Umstellung bedeutete. Dallis kannte es schließlich anders und sie würde sicher eine Menge vermissen. Und Patricia bezweifelte ganz ehrlich, dass Dallis sich dabei auf Dauer wirklich wohlfühlen würde.
Aber die Alternative war so viel schlimmer.
Also versuchte Patricia noch einmal, ihre Eltern zum Kauf der Stute zu überreden.
»Ihr braucht mir das Geld ja auch bloß zu leihen«, bettelte sie. »Ihr kriegt es auf jeden Fall wieder! Rechnet es mir auf mein Taschengeld an und ich hab auch noch ein bisschen was auf dem Sparbuch . . .«
Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Nein, Patricia. Du hast gehört, was deine Mutter und ich dazu gesagt haben und die Sache ist damit für mich erledigt.«
»Du musst das verstehen«, fügte Mrs Mackintosh hinzu. »Was willst du denn mit einem eigenen Pferd anfangen? Es kostet ein kleines Vermögen, ein Pferd zu halten, das weißt du selbst. Wenn du reiten möchtest, kannst du das doch jederzeit bei Helen tun, das war nie ein Problem. Und das Pferd, das du bei ihr immer geritten hast, war sowieso schon fast wie dein eigenes, wie hieß es gleich wieder . . .?«
Patricia gab keine Antwort.
Es war zwecklos. Ihre Eltern verstanden nichts. Sie würden ihr nicht helfen.
Nach einer erneuten schlaflosen Nacht saß Patricia bereits wieder in aller Herrgottsfrühe bei Dallis im Stall.
Sie schaute der Stute zu, wie diese geruhsam am Heu knabberte, und streichelte sie mit Tränen in den Augen, wenn Dallis den Kopf zu ihr herüberstreckte und ihr die Nüstern sanft ins Gesicht stieß. Die Stute merkte natürlich, in welcher Stimmung sich Patricia befand. Pferde spürten eben alles und Dallis war außerdem ein besonders sensibles Pferd, dachte Patricia.
Wie sollte sie es nur ertragen, falls dieses liebenswerte Wesen morgen tatsächlich getötet wurde?
Falls...Ihr wurde bewusst, dass sie es immer noch nicht richtig glauben wollte. Immer noch dachte sie daran nur als drohende Möglichkeit. Dass es mittlerweile eigentlich feststand, verdrängte sie nach wie vor.
Patricia schloss die Augen und presste die Lippen zusammen, um das aufsteigende Schluchzen zu unterdrücken. Sie hoffte nur, dass Dallis nicht ahnte, dass es um sie selbst ging.
Wo blieb heute nur Ethan? Patricia hoffte, dass er bald kam. Sie brauchte ihn so sehr, das merkte sie immer deutlicher. Sie sehnte sich nach seiner warmen dunklen Stimme und den tröstenden Worten, die er trotz allem fand. Sie wünschte sich seine verständnisvollen braunen Augen herbei und die Sicherheit, die der beruhigende Druck seiner Hände vermittelte. Seine Anwesenheit würde ihr wieder ein wenig Kraft und Hoffnung geben.
Aber war das wirklich der einzige Grund, warum sie immer wieder horchte, ob nicht endlich die Stalltür knarrte? Nur weil sie hier allein vor Angst und ihrem Kummer beinahe verrückt wurde?
Was würde sie empfinden, wenn die Situation eine andere wäre, wenn Dallis sich nicht in
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