Der Ruf der Steine
der englischen Fakultät Peter eine dieser dummen Fragen gestellt. Bei einer Unterhaltung in der Cafeteria der Universität, bei der es um ihre mageren Gehälter gegangen war, hatte sein Kollege unvermittelt wissen wollen, wie er sich verhalten würde, wenn seine Frau und sein Kind ertranken, er aber nur einen von beiden retten könnte. Wen würde er retten – seine Frau oder seinen Sohn? Er wusste noch, dass er die Frage zuerst als irreal zurückgewiesen hatte. Was sollte eine solche Antwort beweisen? Abgesehen davon, dass man eine grauenhafte Wirklichkeit zu einem akademischen Problem abstrahierte? Sein Kollege meinte jedoch, dass man im Leben auf derartige Fragen vorbereitet sein müsste. Im Voraus ließen sich solche Entscheidungen nicht fällen, erklärte Peter. Außerdem weigerte er sich, eine so dumme Frage auch noch mit einer Antwort zu ehren. Er konnte nur erklären, dass er vermutlich versuchen würde, beide zu retten, und wahrscheinlich bei dieser Aktion ums Leben käme. Der Professor war höchst unzufrieden, weil die Rettung von zwei Personen von vornherein unmöglich war. Es konnte nur einer gerettet werden, und er musste sich entscheiden. Da Peter sich standhaft weigerte, gab der Kollege schließlich auf. Bevor er ging, erwähnte er noch, dass fast jeder Mann seine Frau retten würde, aber die Frauen sich meistens für ihr Kind entschieden.
»Eine zweifellos wichtige Statistik«, hatte Peter beim Abschied bemerkt. Wer solche Fragen beantwortete, war genauso dumm wie der Fragende, oder er antwortete nur, um den Frager loszuwerden.
Während Peter über den knirschenden Sand zum Haus zurückkehrte, dachte er über dieses Dilemma nach. Wie würde er sich in der heutigen Situation entscheiden? Deine Frau und dein Kind versinken vor deinen Augen, und du kannst nur einen von beiden retten. Wen liebst du mehr?
Als er die Strandtreppe erreichte, war ihm endlich nicht mehr kalt, und er dachte an die vielen Männer, die sich genauso entschieden hatten wie er.
Ja, er würde sich der Mehrheit anschließen.
Im Wohnraum brannte ein kleines Lämpchen. Eigentlich hätte es dunkel sein müssen, denn als er gegangen war, hatte kein Licht gebrannt. Es gefiel ihm nicht. Die Dunkelheit war ihm lieber.
Er ging ins Haus, aber niemand erwartete ihn. Alles war noch an seinem Platz, nur das kleine Lämpchen brannte. Und auf dem Tisch am Fenster lag sein Messer in seiner Hülle. Er befestigte es an seinem Gürtel und zog das Messer heraus. Die Schneide züngelte wie eine Schlange im Licht. Polierter Molybdänstahl. Scharf und nur für Eingeweihte bestimmt – wie du, Big Daddy.
Er befühlte es wie damals, als er es geschenkt bekommen hatte, fühlte das Horn, las die Buchstaben PVZ auf dem kleinen Messingschild und wusste für Sekunden nicht einmal, was sie bedeuteten. Dann löschte er das Licht.
Die Treppe knarrte unter seinen Schritten.
Er fand seinen Weg im Dunkel, hörte, wie Jackie wie ein Bär schnarchte, und ging an Connies Zimmer vorbei zu seiner Tür. Seine Hand war feucht, sodass sich der Griff des Messers rutschig anfühlte. Er öffnete die Tür und erstarrte, als sie plötzlich quietschte. Bewegungslos hielt er inne, aber niemand regte sich. Keine plötzlichen Bewegungen, keine nervösen Stimmen. Nur süße absolute Stille. Geräuschlos stieß er die Tür auf. Der Mond stand mittlerweile hoch am Himmel, und sein bleiches Licht fiel ins Zimmer. Vorsichtig schloss er die Tür hinter sich und ließ das Schloss ganz leise einschnappen. Dann sank er mit dem Rücken gegen das Holz und wartete, bis der Raum sich an seine Gegenwart gewöhnt hatte. Er keuchte fast, und das Herz hämmerte ihm im Hals. Mindestens hundert Schläge zählte er, bevor er auf den Umriss in der Ecke zuging, auf die beiden dicht beieinander stehenden Betten. Das eine flach und unbenutzt, und daneben sein schlafender Sohn unter einem Berg Decken. Nach drei Schritten blieb er stehen, und ein Schauder lief ihm über den Rücken. Andy war nicht im Zimmer. Auch sein Bett war nicht mehr da.
Er knipste die Lampe an. Sein Bett stand einsam an der Wand, und auf seinem Kissen lag ein Zettel.
Peter,
Andy hatte Alpträume. Deshalb schläft er bei mir. Ich hoffe, du hast nichts dagegen. Bis morgen. Schlaf gut.
Connie
Verdammt, diese Hexe!
Wütend schnitt Peters Messer mehrmals durch die Luft. Du Hexe! Dann stieß er wieder und wieder zu. Im Schatten auf der Wand sah er, wie das Messer wieder und wieder auf ihn einstach.
Diese Frau, dachte er,
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