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Der Ruf der Steine

Der Ruf der Steine

Titel: Der Ruf der Steine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Goshgarian
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Umstehenden nur verzweifelt den Kopf schüttelte. Ungefähr eine Minute lang ließ er die Menge gewähren, bis er dem Geschrei mit einer Handbewegung Einhalt gebot.
    Ein letztes Mal deutete er mit dem Finger auf die Frau vor ihm.
    »Brigid Mocnessa, der Herr sagt, dass eine Hexe den Tod verdient, und der Wille des Herrn soll geschehen!« Seine Handfläche presste sich auf die Bibel.
    Von irgendwoher tauchten drei Männer mit Reisig, Holzscheiten und Fackeln auf. Ein vierter trug ein nacktes, zappelndes Baby auf dem Arm.
    Die Frau stieß einen durchdringenden Schrei aus, unter dem die Nacht erzitterte. »Mein Baby!« Ihre Arme streckten sich dem Kind entgegen. In all dem Wirbel begann das Baby zu schreien. »Mein Isaac!«
    »Ja, Fleisch von deinem Fleisch, Blut von deinem Blut.«
    Mit weit aufgerissenen Augen nahm Oates das Kind in Empfang.
    Das Baby war missgebildet, aber kein Ungeheuer. Deutlich konnte Peter das mongoloide Gesichtchen erkennen. Ein Baby mit Down Syndrom, dachte er.
    »Du sollst deinen abscheulichen Dämon haben«, rief Oates und warf Brigid das Kind wie ein Stück Abfall zu.
    Die Frau fing das Baby auf und drückte es an ihre Brust. »Ich verfluche dich, Jeremiah Oates! Ich verfluche dich!«, schrie sie lauthals, während die Männer Reisig und Scheite zu ihren Füßen aufhäuften. »Ich verfluche euch alle!«, kreischte sie, als die Männer die Fackeln in den Holzstoß steckten.
    »Waaaaaaah!« Ein wortloses Geheul erhob sich über der Bucht, als die Flammen um ihre Füße und die Fessel emporzüngelten.
    Entsetzt sah Peter zu, wie die Flammen um die Frau und das nackte Kind züngelten. Er wollte aufwachen. Aber so heftig er sich auch auf die Hüfte schlug – er konnte den Traum nicht abschütteln. Mit den Fingernägeln kratzte er über seine Brust, aber der Traum hielt ihn gefangen.
    Mit unglaublicher Schnelligkeit erfassten die Flammen das Gewand der Frau und züngelten bereits über ihre Arme empor. Der Rauch traf Peter wie ein Peitschenschlag mitten im Gesicht. Er roch das brennende Haar, das brennende Fleisch, als es in der Hitze zischend aufplatzte. Fettig fauliger Gestank – er roch ihn schon seit Tagen.
    Einen unendlich langen Moment schrie das Kind in höchsten Tönen. Der Nachhall würde Peter sein Leben lang verfolgen.
    Mit schwarzen Armen umklammerte Brigid ihr Kind. Halb tot vor Qualen hob sie noch einmal mit letzter Kraft den Kopf und starrte Reverend Oates und seinen Sohn in ihrer letzten Minute an. Ihr Haar war eine riesige flammende Wolke, und ihre Stimme mischte sich in das Brausen des Feuersturms. »Rache!«
    Peter wandte den Blick ab. Er wollte nur noch den Jungen trösten, der angesichts der lodernden Helligkeit die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte. Während Peter sich durch die Menge drängte, warf er einen kurzen Blick auf die Hexe und erkannte inmitten des Feuerscheins der Opferung Lindas Gesicht.

 

    18
    Er schoss senkrecht in die Höhe.
    Im Raum war es totenstill. Sein T-Shirt war schweißnass und kalt, die Decke lag auf dem Fußboden, und die Matratze fühlte sich feucht an. Sein Herz hämmerte in rasendem Tempo.
    Im Bett neben ihm schlief Andy tief und fest, das Gesichtchen an Lambkin gepresst.
    Nur das ständige Zirpen der Grillen war zu hören.
    Auf seiner Uhr war es ein Uhr zwanzig.
    Er stand auf und streifte statt des verschwitzten T-Shirts ein Sweatshirt über.
    Er war wach, viel zu wach, und trat ans Fenster. Das Bild der Frau mit dem Baby brannte in seinem Kopf. Er schmeckte noch den Qualm auf der Zunge und hörte noch immer das Echo der Schreie. Dasselbe Geschrei hatte in seinen Ohren gedröhnt, als er mit Connie zusammen gewesen war. Die Hexe hatte Lindas Gesicht gehabt. Und ihren letzten Fluch hatte sie an einen Jungen gerichtet, der wie Andy aussah. Die brennende Linda, die ihrem Sohn Rache schwor!
    Einen schlimmeren Alptraum hatte er noch nicht erlebt. Er fühlte sich erschöpft, als ob man ihn gezwungen hätte, einer Gräueltat beizuwohnen. Er wollte gar nicht lange darüber nachdenken oder gar versuchen, den Traum zu analysieren und irgendwie einzuordnen. Er wollte nicht daran rühren. Lange Zeit stand er am Fenster und versuchte, Ordnung in seinen Kopf zu bringen.
    Er konzentrierte sich auf andere Dinge. Auf die Nacht. Die Sterne waren hinter einem Gazeschleier verschwunden, und schwere Regenwolken näherten sich aus Osten. Morgen würde es regnen, und das bedeutete verschlammte Gruben. Vielleicht konnten sie provisorische Zelte aus

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