Der Ruf der Steine
schweren Gipsverband um den Unterkörper befreit wurde, ging es einem vermutlich ähnlich. Trotz seiner schlammverklebten, kalten Kleider durchdrang ihn ein warmes Hochgefühl, endlich wieder gehen zu können! Er fühlte sich high – besser konnte er es nicht beschreiben. Trotzdem ließ sich das Gefühl nicht mit dem Kokainrausch aus Collegetagen vergleichen, eher mit der Euphorie nach einem Zehntausendmeterlauf. Bestes Körpergefühl nach einer erfolgreich bewältigten Anstrengung – spezielle Ausfertigung für alle, die dem Sensenmann ins Gesicht gesehen hatten. Die Euphorie der Wiedergeburt.
Nein, mehr als nur Euphorie. Dieses Gefühl grenzte an Verzückung, wie sie nur Mystikern und Heiligen zuteil wurde.
Alles um ihn herum erschien ihm mit einem Mal sehr viel wirklicher und deutlicher – das Schilf, die flackernden Schatten, die dunkle Silhouette, die ihm voranging. Als ob er ein Hologramm der Welt betrachtete und die Dinge zum ersten Mal sähe. Die dicken Regentropfen erinnerten ihn an einen Schwarm Elritzen.
Der Spiritualismus der Mystiker.
Das vollgesogene, moorige Sweatshirt hing wie eine alte Haut an ihm herunter. Er zog es aus und band es sich um die Hüften. Kühl und klar prasselte der Regen auf ihn herunter und schwemmte den Schmutz und das Salz von seiner Haut. Er hob sein Gesicht den Wolken entgegen und ließ die Tropfen genüsslich auf der Zunge zergehen. Kühles, süßes Wasser. Er massierte Arme und Brust – aber nicht wegen der Kälte, sondern weil seine Haut wie elektrisiert vibrierte.
Peter fühlte sich wie neugeboren.
Neugeboren – und das aus gutem Grund. Entdeckungen warteten auf ihn. Und neue Wunder.
Sein Kopf war leicht. Und genauso beschwingt genoss Peter die Rückkehr ins Leben.
Schweigend ging die Gestalt vor ihm her und sah sich nicht ein einziges Mal nach ihm um. Peter folgte ihr bis zum Ende des Stegs und dann über ein Stück flaches Land. Zum ersten Mal seit Stunden hörte er in nicht allzu großer Entfernung die Brandung rauschen. Der Regen war schwächer geworden, und der Wind hatte sich zu einer leichten Brise gemildert. In der Ferne riss die Wolkendecke auf, und die ersten Sterne blitzten durch einen dunstigen Schleier. Im Osten war der Mond aufgegangen, und das Universum wirkte wieder freundlich und vertraut.
Je länger sie gingen, desto mehr fiel Peters Hochstimmung in sich zusammen. Plötzlich war ihm kalt. Er rieb seine Arme, um die Blutzirkulation zu beschleunigen. Er hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden, denn die Orientierung war ihm schon vor langer Zeit abhanden gekommen. Instinktiv vermutete er, dass sie sich an der Westküste befanden – auf der entgegengesetzten Seite des Hauses – und dass sie sich ständig weiter davon entfernten.
»Verzeihung.« Er kam sich ziemlich dumm vor, dass er ein Geweih ansprach.
Entweder konnte ihn der Mann nicht hören, oder er wollte nicht – jedenfalls reagierte er nicht. Er ging im gleichen Tempo weiter und schwenkte die Laterne, und Peter folgte ihm.
Kurze Zeit später betraten sie erneut einen Wald. Sofort beschleunigte sich Peters Puls. Er rechnete mit emporzüngelnden, geisterhaften Flammen und dem Flügelschlag einer Eule, aber nichts dergleichen geschah. Sein Kopf und sein Verstand waren klar, nur das Zeitgefühl fehlte. Seine Armbanduhr lag auf dem Nachttisch, und die innere Uhr war durch das Erlebnis im Sumpf völlig durcheinander. Wie viele Stunden waren inzwischen vergangen? Zwei? Oder drei? Er hatte das Gefühl, schon seit mehreren Nächten unterwegs zu sein. Und er fragte sich, ob Linda noch immer in seiner Nähe war.
Er stellte sich vor, wie Andy aufwachte und Connie ihn tröstete. Aber Andy würde keine Entschuldigung akzeptieren. Bestimmt wollte er ihn suchen. So war er nun einmal. Ein Nein nahm er nicht zur Kenntnis.
Plötzlich wollte Peter nur noch nach Hause. Er wusste nicht, wohin er geführt wurde. Einige Male wollte er den Mann bitten, ihm den Weg nach Hause zu zeigen, doch irgendwie brachte er es nicht über sich. Die Gestalt war einfach zu wunderlich – und ganz nebenbei war er neugierig.
Bisher hatte er unter der Schnauze des Tierkopfes nicht viel erkennen können, aber er hatte den Eindruck gewonnen, als ob der Mann nicht mehr jung wäre. Und doch ging er mit beschwingtem Schritt vor ihm her. Wie von einem Radar geleitet, bewegte er sich zwischen den Bäumen hindurch und schien seinen Weg genau zu kennen. Dabei folgten sie nach Peters Empfinden gar keinem Weg oder
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