Der Ruf der Steine
Trampelpfad, sondern schlängelten sich zwischen Eichen, Birken und Fichten hindurch, einen Hügel hinab, dann durch einen Bach und wieder eine kleinere Erhebung hinauf.
Das Brandungsgeräusch wurde lauter, als sie sich einer Lichtung näherten. Am entgegengesetzten Ende erkannte Peter eine kleine Hütte, in der Licht brannte. Hummerfallen stapelten sich an der Wand, und auf dem Boden lagen bunte Schwimmer und Leinen. Es stank nach Fisch und Meer.
Als der Mann die Tür aufstieß, fiel der Lichtschein auf das Fell eines Seehunds, das auf einem Brett über zwei Fässern ausgebreitet lag. Das Fell starrte vor Salz. Vor dem Betreten der Hütte erkannte Peter aus dem Augenwinkel ein kleines blaues Fischerboot, das am Ufer unterhalb der Hütte ankerte. Dasselbe blaue Boot, das er schon mehrmals beobachtet hatte.
Der Mann ging voraus, und Peter folgte ihm und schloss die Tür. Im selben Augenblick rutschte ein eisenfarbener Zopf unter dem Kopfputz des Mannes hervor.
Der Mann war eine Frau.
Peter war keineswegs erschrocken, sondern nur erleichtert, dass die Frau tatsächlich ein Mensch war.
Im Inneren der Hütte war es feucht, und es roch durchdringend nach Fisch. Auf einem Ölfass an der Wand stand eine Kerosinlampe. Die Hütte entpuppte sich als Bootshaus, und auf zwei Böcken lagerte seitlich ein hölzerner Außenborder. Mehrere Decken lagen zusammengeknüllt im Bug. Ruder, Taue, Werkzeuge und andere maritime Devotionalien schmückten die Wände.
»Wenn Sie nicht gekommen wären, wäre ich vermutlich endgültig im Moor versunken.« Eigentlich hatte er fragen wollen, ob Linda sie geschickt hatte, aber er konnte nicht beurteilen, ob diese Frau Lindas Gegenwart ebenso empfunden hatte wie er. Die Hütte wirkte eher armselig – nicht wie die Heimstatt eines übernatürlichen Wesens.
Wortlos musterte ihn die Frau und trat dann in den Hintergrund, der im Schatten lag. Sie platzierte ihren Kopfschmuck auf einem Ständer aus einem Stecken und einem Schwimmer. Dann entknotete sie mit großer Sorgfalt das Fell, faltete es mit gemessenen Bewegungen und deponierte es auf einem Regalbrett an der rückwärtigen Wand der Hütte. Es war ein Ritual, das sie schon öfter vollführt hatte. Bestimmt gehörte es zu dem Tanz auf dem Hügel, doch in dieser Umgebung wirkte es enttäuschend.
Als die Frau wieder zurück ins Licht trat, war kein Zweifel mehr möglich. Es war dasselbe Gesicht, das sie aus dem Wald heraus beobachtet hatte, vermutlich seit mehreren Tagen. Dasselbe breite Gesicht – wie geschaffen für einen reglos starrenden Blick. Es waren die Augen, die diesen Eindruck hervorriefen. Das rechte Auge war groß und wach und musterte Peter eindringlich, während das linke aufgrund eines schwachen Muskels zur Seite in die Dunkelheit starrte. Im Grunde waren es zwei Gesichter. Eines sah ihn an, und das andere blickte zur Seite. Eines für die Realität, und das andere für eine andere Welt. Die graublaue Farbe wollte nicht so recht zu den leicht asiatischen Gesichtszügen passen.
Die Frau war groß, ähnlich groß wie Peter, und wirkte sehr kräftig. Sie trug einen schwarzen Overall und ein dunkles Sweatshirt. Das regennasse Haar klebte hinter den Ohren. Bis auf die grauen Strähnen gab es keine Anhaltspunkte, um ihr Alter zu schätzen. Sie konnte genauso gut fünfzig oder auch siebzig sein. Im gelblichen Lichtschein schimmerte ihre Haut dunkel und fettig. Auf einer Wange befand sich ein samtartiges Muttermal – als ob ihr soeben ein Insekt aus dem Mund gekrochen wäre.
»Ich möchte mich bedanken, dass Sie mir das Leben gerettet haben.«
Die Frau blieb stumm und starrte ihn weiter wie ein Zyklop an.
Aus einer Schenkeltasche ihres Overalls zog sie ein langes, dünnes Messer hervor. Mit dem Daumen prüfte sie die Schärfe und machte sich dann daran, den moorigen Belag von der Spitze des gegabelten Stabes abzuschaben. Mit der einen Hand rollte sie den Ast unentwegt hin und her, während die andere kratzte und schabte. Hin und wieder wischte sie die Klinge an ihrem Overall sauber. Die ganze Zeit über hatte das starre Reptilienauge Peter genau im Blick.
»Ist das eine Wünschelrute?«
Wieder keine Reaktion. Misstrauisch beäugte ihn die Frau und kratzte weiter am Holz herum. Er hatte nicht den Eindruck, dass sie seine Frage verstanden hatte. Ihre Lippen waren fest aufeinander gepresst, und dennoch bewegten sie sich, als ob ein innerer Monolog stattfände.
»Wer sind Sie?«, fragte er. Wie ein Ring aus Zigarettenrauch
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