Der Ruf der Steine
lang sagte sie gar nichts, und er fragte sich, was sie dachte. Sie wirkte teilnahmslos, aber dann entspannten sich ihre Gesichtsmuskeln, und der Glanz ihrer Haut verblasste. Sie seufzte einmal tief und stöhnte etwas, und dann senkte sie die Wünschelrute. Demnach glaubte sie ihm. »Die Steine gehören ihm nicht.«
Sie zerrte eine der Decken aus dem Bug des Bootes und gab sie Peter. Als er sie sich um die Schultern legte, sah er, wie sie eine kleine Pille aus einem Röhrchen in den Mund steckte. Sie stöhnte ein wenig vor Schmerzen, während sie das Fläschchen wieder einsteckte. »Haben Sie einen Namen?«
»Peter Van Zandt.«
»Ich will Ihnen etwas erklären, Peter Van Zandt. Eines Tages kamen Mr. Shit und seine verdammten Rechtsanwälte mit einem Papier, auf dem stand, dass ich verschwinden müsste, weil die Insel umgebaut werden sollte. Sie erklärten, dass man mir die Felder nur zur Bearbeitung überlassen hätte. Die Zeit sei jetzt vorbei, und ich müsse mir einen anderen Ort zum Leben suchen.« Sie spuckte auf den Boden.
»Es tut mir Leid, das zu hören.« Sie wirkte nicht länger bedrohlich. »Haben Sie einen Rechtsanwalt zu Rate gezogen?«
»Es war sinnlos. Ich habe mich sogar an das Büro für indianische Angelegenheiten gewandt. Auf dem Papier stand klar und deutlich, dass das Land ihm gehöre und ich gehen müsse.«
»Sind Sie Indianerin?«
Sie nickte. »Sie schickten mir einen Scheck, damit ich mir eine andere Bleibe suchen konnte. So läuft das immer. Sie kaufen und vernichten deine Existenz.« Sie wischte das Messer ab, steckte es in die Hülle zurück und versenkte es wieder in der Tasche.
»Und haben Sie eine andere Bleibe gefunden?«
»Ich lebe seit zweiundsiebzig Jahren auf dieser Insel. Für mich gibt es keine andere Bleibe.«
»Sie leben noch immer hier?«
Sie schüttelte den Kopf. Aber es war ziemlich offensichtlich, dass sie gelegentlich in diesem Außenborder schlief. Normalerweise lebte sie auf dem Fischerboot, das auf dem Wasser ankerte.
Sie verließ den Lichtkreis und machte sich im Hintergrund der Hütte zu schaffen. Als sie zurückkehrte, hielt sie etwas in der Hand. Im Schein der Lampe wickelte sie einige Tierhäute von einem Rahmen ab und breitete sie sorgfältig über die Seite des Außenborders. Dann reichte sie Peter das Bild. Peter beugte sich zum Licht, um besser sehen zu können.
Es handelte sich um eine Radierung, die mit Sepia und grauer Kreide bearbeitet war. Das fleckige, ausgebleichte Papier war offenbar sehr alt, doch die Zeichnung in der Mitte war deutlich und in allen Einzelheiten sorgfältig ausgeführt. Eine kahle Klippe, die aus dem brausenden Meer aufstieg, Wellen, die an Felsen brandeten, und unter einem bedeckten Himmel oben auf der Klippe ein Ring aufrecht stehender Steine.
Ein Steinkreis.
Menschen befanden sich innerhalb und außerhalb des Kreises – Männer in Gehröcken, Strümpfen und breitkrempigen Hüten. Inmitten des Kreises befand sich eine Frau. Eine Frau in langem Gewand mit einem Geweih auf dem Kopf. Sie stand vor einer Art unfertiger Säule, an die man ein Kind gefesselt hatte. Mit angstvoller Miene erwartete es den Tod durch den Dolch, den die Frau hoch in die Luft erhoben hatte.
Die Inschrift am Rand lautete: Die Opferung von Unschuldigen im Stein-Tempel von Druid’s Head. Am unteren rechten Rand hatte der Künstler seine Signatur angebracht – Ezra Bodwell. Und das Datum – 1692.
»Ist das Pulpit’s Point?«
»So heißt die Klippe heute.«
Die Größenverhältnisse waren etwas verschoben, und die Art der Darstellung ziemlich altmodisch. Die Wellen brandeten zu hoch, und die Klippe war zu niedrig. Aber die Umrisse der Klippe, die Felsen an der Küste, der bewaldete Hügel im Hintergrund und selbst die Ansicht des kolonialen Boston jenseits der Bucht waren ausgezeichnet dargestellt. Sogar der Felsen im Wasser war zu erkennen. Es war eindeutig das östliche Ende von Kingdom Island. Peter zählte die Steine auf der Klippe. Dreizehn – und ein vierzehnter mehr im Zentrum. Allesamt überragten sie die Priesterin in ihrer Mitte.
»Da haben Sie Ihre alte Kirche, Mr. Archäologe.«
Für Sekunden dachte er, dass er noch immer träumte. Die ganze Nacht – nur ein Film: Der Weg durch den Wald, Linda, die ihn führte, das Versinken im Sumpf, die schiefäugige Hexe, die Inschrift und der Steinkreis auf der Klippe. Das passierte alles nur in seinem Kopf, genau wie in den Nächten zuvor. Es war lediglich die Fortsetzung einer langen
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