Der Ruf Der Trommel
sondern die opalisierende Haut und das perfekte, schlafende Gesicht meines ersten Kindes. Faith, mit ihren Katzenaugen, die niemals das Tageslicht erblickten.
Blickte auf in dieselben Augen, diesmal geöffnet und voller Wissen. Ich sah auch dieses Baby, meine zweite Tochter, voller Blut und Leben, rot und verschrumpelt, wutrot über das Ärgernis der Geburt,
so ganz anders als die Stille der ersten - und genauso großartig in ihrer Perfektion.
Zwei Wunder waren mir geschenkt worden, ich hatte sie unter dem Herzen getragen, sie geboren und in den Armen gehalten, von mir getrennt und für immer ein Teil von mir. Ich wußte nur zu gut, daß weder der Tod noch die Zeit noch der Abstand ein solches Band jemals veränderten - weil ich davon verändert worden war, für immer verändert durch diese rätselhafte Verbindung.
»Ja, ich verstehe«, sagte ich. Und dann sagte ich, »Oh, aber Brianna!«, als mir erneut schlagartig zu Bewußtsein kam, was ihre Entscheidung für sie bedeuten würde.
Sie beobachtete mich, die Augenbrauen zusammengezogen, Sorgenfalten im Gesicht, und verspätet kam mir der Gedanke, daß sie vielleicht meine Ermahnungen für Äußerungen meiner eigenen Reue hielt.
Entsetzt über den Gedanken, sie könnte glauben, ich hätte sie nicht gewollt oder mir jemals gewünscht, es gäbe sie nicht, ließ ich die Klinge fallen und griff über den Tisch nach ihrer Hand.
»Brianna«, sagte ich, und Panik ergriff mich bei dem Gedanken. »Brianna. Ich liebe dich. Glaubst du mir, daß ich dich liebe?«
Sie nickte wortlos und streckte ihre Hand nach mir aus. Ich ergriff sie wie ein Rettungsseil, wie die Schnur, die uns einst verbunden hatte.
Sie schloß die Augen, und zum ersten Mal sah ich das Glitzern der Tränen, die an ihren sanft geschwungenen, dichten Wimpern hingen.
»Das habe ich immer gewußt, Mama«, flüsterte sie. Ihre Finger legten sich fester um meine Hand; ich sah ihre andere Hand flach gegen ihren Bauch gedrückt. »Von Anfang an.«
50
In welchem Kapitel alles ans Licht kommt
Ende November wurden die Tage ebenso kalt wie die Nächte, und die Regenwolken begannen, sich tiefer auf die Hänge zu legen. Unglücklicherweise hatte das Wetter keine dämpfende Wirkung auf die Laune meiner Lieben; alle waren zunehmend gereizt, und zwar aus offensichtlichem Grund: immer noch kein Wort von Roger Wakefield.
Brianna schwieg sich weiter über den Grund ihrer Auseinandersetzung aus; eigentlich erwähnte sie Roger kaum noch. Sie hatte ihren Entschluß gefaßt; jetzt konnte sie nur noch warten und Roger zu dem seinen kommen lassen - wenn er das nicht bereits getan hatte. Dennoch konnte ich sehen, wie Furcht und Wut in ihrem Gesicht miteinander kämpften, wenn sie sich gehenließ - und Zweifel hingen über uns allen wie die Wolken über den Bergen.
Wo war er? Und was würde geschehen, wenn - oder falls - er schließlich auftauchte?
Ich suchte Zuflucht vor der allgemeinen Gereiztheit bei einer Bestandsaufnahme in der Vorratskammer. Der Winter war fast da; die Sammelexkursionen waren vorüber, der Garten abgeerntet, das Einkochen abgeschlossen. Die Wandborde in der Vorratskammer bogen sich unter Säcken mit Nüssen, haufenweise Kürbissen, aufgereihten Kartoffeln, Gläsern mit getrockneten Tomaten, Pfirsichen und Aprikosen, Schalen mit Trockenpilzen, Käserädern und Körben voller Äpfel. Zwiebel- und Knoblauchzöpfe und auf Schnüren aufgereihte Fische hingen von der Decke herab, auf dem Boden standen Fässer mit Pökelfleisch und gesalzenen Fischen und Steingutfässer mit Sauerkraut.
Ich zählte meine Schätze wie ein Eichhörnchen, das seine Nüsse betrachtet, und unser Überfluß beruhigte mich. Egal, was sonst noch geschah, wir würden weder verhungern noch Mangel leiden.
Als ich aus der Vorratskammer kam, ein Stück Käse in der einen Hand und eine Schale getrocknete Bohnen in der anderen, hörte ich ein Klopfen an der Tür. Bevor ich rufen konnte, öffnete sie sich, und Ian steckte den Kopf herein und sah sich vorsichtig im Zimmer um.
»Brianna nicht hier?« fragte er. Da das offensichtlich nicht der Fall war, wartete er nicht auf eine Antwort, sondern trat ein und versuchte, sich das Haar zu glätten.
»Hast du’nen Spiegel für mich, Tante Claire?« fragte er. »Und vielleicht einen Kamm?«
»Ja, natürlich«, sagte ich. Ich stellte die Lebensmittel ab, holte meinen kleinen Spiegel und den Schildpattkamm aus der Anrichte und gab sie ihm, während ich an seinem schlaksigen Körper
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