Der Ruf Der Trommel
verknäult hatten.
Mit einem leichten Panikgefühl erkannte er, daß er keine Ahnung hatte, aus welcher Richtung er gekommen war.
Er legte den Kopf auf seine Knie, atmete tief durch und versuchte zu denken. Na gut, eins nach dem anderen. Sein rechter Fuß blutete stark aus einem tiefen Riß am Rand der Sohle. Er zog seine zerfetzten Strümpfe aus und benutzte einen davon, um seinen Fuß zu verbinden. Sonst schien nichts so schlimm zu sein, daß ein Verband nötig war, außer der flachen Schramme in seiner Kopfhaut; aus dieser sickerte immer noch Blut, feucht und klebrig.
Seine Hände zitterten; es war schwierig, sich den Strumpf um den Kopf zu binden. Dennoch fühlte er sich nach dieser winzigen Handlung besser. Also dann. Er hatte in Schottland unzählige Munros bestiegen, jene endlosen Felsengipfel, und hatte mehr als einmal bei der Suche nach Ausflüglern geholfen, die sich zwischen den Felsen und in der Heide verlaufen hatten.
Wenn man sich in der Wildnis verlaufen hatte, dann war die übliche Vorsichtsmaßnahme, sich nicht vom Fleck zu bewegen und darauf zu warten, daß man gefunden wurde. Doch das traf nicht zu, wenn die einzigen Menschen, die nach einem suchten, diejenigen waren, von denen man nicht gefunden werden wollte.
Er blickte durch das verknäulte Geäst nach oben. Er konnte an ein
paar Fleckchen den Himmel sehen, doch die Rhododendren erhoben sich fast vier Meter hoch. Es gab keine Möglichkeit, aufzustehen; er konnte unter den verwobenen Zweigen kaum aufrecht sitzen.
Es war unmöglich zu sagen, wie groß dieses Dickicht war; auf ihrem Weg durchs Gebirge hatte er ganze Hänge mit Heidegestrüpp bewachsen gesehen, Täler, die mit dem tiefen Grün der Rhododendren angefüllt waren. Nur wenige, ehrgeizige Bäume hatten aus dem wogenden Blättermeer aufgeragt. Dann wieder hatten sie kleinere Gebüsche umritten, die nicht mehr als zehn Quadratmeter groß waren. Er wußte, daß er sich ziemlich nah am Rand des Dickichts befand, doch dieses Wissen war nutzlos, da er keine Ahnung hatte, in welcher Richtung sich der Rand befand.
Ihm wurde bewußt, daß ihm sehr kalt war und daß seine Hände immer noch zitterten. Schock , dachte er dumpf. Was tat man dagegen? Heiße Flüssigkeiten. Decken. Brandy. Na wunderbar. Die Füße hochlegen. Das konnte er immerhin tun.
Er schaufelte sich eine kleine, unbequeme Grube, ließ sich hineingleiten und kratzte die feuchtkalten, halb verrotteten Blätter über Brust und Schultern zusammen. Er stützte seine Füße in einer Astgabel auf und schloß zitternd die Augen.
Sie würden ihm nicht folgen. Warum sollten sie auch? Es war viel einfacher zu warten, sofern sie keine Eile hatten. Er mußte irgendwann herauskommen - wenn er es noch konnte.
Jede Bewegung hier unten würde oben das Laub schütteln und den Beobachtern seine Bewegungen punktgenau anzeigen. Das war ein grausiger Gedanke; zweifellos wußten sie, wo er sich jetzt befand, und warteten einfach nur seine nächste Bewegung ab. Die Himmelsflecken hatten die tiefblaue Farbe von Saphiren; es war immer noch Nachmittag. Also würde er die Dunkelheit abwarten, bevor er sich wieder in Bewegung setzte.
Mit auf der Brust verschränkten Händen zwang er sich dazu, sich auszuruhen, an irgend etwas jenseits seiner gegenwärtigen Lage zu denken. Brianna. An sie wollte er denken. Diesmal ohne die Wut und Verwirrung; dazu war jetzt nicht die Zeit.
Er wollte so tun, als wäre alles friedlich zwischen ihnen, so wie es in jener Nacht, ihrer Nacht gewesen war. Warm neben ihm in der Dunkelheit. Ihre Hände, so ungehemmt und neugierig, begierig auf seinem Körper. Die Großzügigkeit ihrer Nacktheit, die sie ihm freigiebig schenkte. Und seine vorübergehende, irrtümliche Überzeugung, daß mit der Welt alles für immer in Ordnung war. Nach und nach verebbte das Zittern, und er schlief ein.
Er erwachte irgendwann nach Mondaufgang; er konnte sehen, daß der Himmel von Helligkeit überflutet war, wenn auch nicht den Mond selbst. Er war steif und fror und hatte große Schmerzen. Und Hunger noch dazu, begleitet von fürchterlichem Durst. Na ja, wenn er sich nur aus diesem verfluchten Durcheinander befreien konnte, dann konnte er zumindest Wasser finden; Bäche waren überall in diesen Bergen. Er kam sich so ungeschickt vor wie eine Schildkröte, die auf dem Rücken lag, und drehte sich um.
Eine Richtung war so gut wie die andere. Auf Händen und Knien machte er sich auf, schob sich durch Höhlungen, brach Äste ab, versuchte, so
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