Der Ruf Der Trommel
eisig an, und die Wolken wälzten sich schwarzbäuchig und donnergrollend von den Bergen herab. Es schneite nicht, doch die Nacht war auch so scheußlich genug.
Und wie war es jetzt im Hochgebirge? Hatten sie ein Dorf erreicht, das ihnen Schutz bot? Hatten sie Roger gefunden? Sie erschauerte unwillkürlich, obwohl die Glut immer noch rot im Kamin glühte und es warm im Zimmer war. Sie spürte die unwiderstehliche Anziehungskraft ihres Bettes, das ihr Wärme versprach, und stärker noch den Lockruf der Träume, in denen sie vielleicht dem chronischen Nagen von Furcht und Schuld entkommen konnte.
Doch sie wandte sich zur Tür und zog ihren Umhang vom Haken an ihrer Rückseite. Der Drang der Schwangerschaft mochte es ja nötig machen, daß sie den Nachtstuhl in ihrem Zimmer benutzte, doch sie war fest entschlossen, daß kein Sklave jemals einen Nachttopf für sie tragen würde - nicht, solange sie noch laufen konnte. Sie hüllte sich fest in den Umhang, nahm die zugedeckte Zinnschale aus ihrem Fach und schritt leise durch den Korridor.
Es war sehr spät; alle Kerzen waren gelöscht, und der abgestandene Geruch heruntergebrannter Feuer hing im Treppenhaus, doch im Geflacker der Blitze konnte sie deutlich genug sehen, als sie die Treppe hinunterging. Die Küchentür war entriegelt, eine Unvorsichtigkeit, für die sie dem Koch inständig dankte; so brauchte sie keinen Lärm zu machen, indem sie einhändig mit dem schweren Riegel kämpfte.
Eiskalter Regen schlug ihr ins Gesicht und spritzte unter dem Saum ihres Nachthemdes hoch, so daß sie nach Luft schnappte. Doch als sie den ersten Kälteschock überwunden hatte, genoß sie es; die Gewalt des Wetters war aufregend, der Wind so stark, daß er ihren Umhang in Wogen aufblähte und sie sich zum ersten Mal seit Monaten leichtfüßig fühlte.
Sie wirbelte in einen Schwung bis zum Abort, spülte den Topf in dem Regenguß aus, der von dessen Traufen herabströmte, und blieb dann auf dem gepflasterten Hof stehen und ließ sich den frischen Wind in ihr Gesicht wehen, ließ ihre Wangen vom Regen peitschen. Sie war sich nicht sicher, ob es Buße oder Lobpreis war - ein Bedürfnis, die Unannehmlichkeiten zu teilen, mit denen es ihre Eltern wahrscheinlich zu tun hatten, oder mehr ein heidnischer Ritus -, das Bedürfnis, sich selbst zu verlieren, indem sie mit der wilden Macht der Elemente verschmolz. So oder so, es spielte keine Rolle; sie stellte sich mit Absicht unter den Wasserstrahl der Dachrinne und ließ das Wasser gegen ihre Kopfhaut hämmern, ihr Haar und ihre Schultern durchnässen.
Sie schnappte nach Luft, schüttelte sich das Wasser aus dem Haar wie ein Hund und trat zurück - und hielt inne, weil ein plötzlich aufblitzendes Licht ihre Aufmerksamkeit erregte. Kein Blitz; ein beständiger Strahl, der einen Moment lang leuchtete und dann verschwand.
Die Tür eines der Sklavenquartiere öffnete sich für einen Moment und schloß sich dann wieder. Kam da jemand? Ja; sie konnte Schritte auf dem Kies hören und trat noch einen Schritt zurück in den Schatten - das letzte, was sie wollte, war zu erklären, was sie hier draußen trieb.
Ein Blitz zeigte ihn ihr deutlich im Vorübergehen, und sie erkannte ihn schlagartig. Lord John Grey, der in Hemdsärmeln und ohne Kopfbedeckung vorbeieilte; sein blondes Haar, das nicht zusammengebunden war, wehte im Wind, und offensichtlich bemerkte er weder die Kälte noch den Regen. Er ging vorbei, ohne sie zu entdecken, und verschwand unter dem Überhang der Küchenveranda.
Sie erkannte, daß sie in Gefahr war, ausgesperrt zu werden, und rannte hinter ihm her. Er war gerade dabei, die Tür zu schließen, als
sie mit der Schulter dagegenprallte. Sie platzte in die Küche und stand triefend da, während Lord John sie ungläubig anglotzte.
»Schöne Nacht für einen Spaziergang«, sagte sie, halb außer Atem. »Nicht wahr?« Sie strich sich das feuchte Haar zurück, glitt mit einem höflichen Nicken an ihm vorbei, hinaus und die Treppe hinauf. Ihre nackten Füße hinterließen feuchte, halbmondförmige Abdrücke auf dem dunklen, polierten Holz. Sie lauschte, doch sie hörte keine Schritte hinter sich, als sie an ihrem Zimmer angelangte.
Sie ließ Umhang und Nachthemd vor dem Feuer zum Trocknen liegen und stieg nackt ins Bett, nachdem sie sich Haare und Gesicht abgetrocknet hatte. Sie zitterte, doch das Gefühl der Baumwollaken auf ihrer nackten Haut war wundervoll. Sie räkelte sich und wackelte mit den Zehen, dann drehte sie sich auf
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