Der Ruf Der Trommel
die Seite, rollte sich fest um ihren Schwerpunkt zusammen und ließ die beständige Wärme aus ihrem Inneren nach außen weichen, wo sie nach und nach ihre Haut erreichte und einen kleinen Kokon der Wärme um sie bildete.
Sie ließ die Szene auf dem Gartenweg noch einmal vor ihrem inneren Auge ablaufen, und ganz allmählich nahmen die verschwommenen Gedanken, die ihr im Kopf herumgerattert waren, eine rationale Gestalt an.
Lord John begegnete ihr stets aufmerksam und respektvoll - oft belustigt oder bewundernd -, doch irgend etwas fehlte. Sie war nicht in der Lage gewesen, es zu identifizieren - lange Zeit war es ihr nicht einmal aufgefallen -, doch jetzt wußte sie, was es war, ohne jeden Zweifel.
Wie die meisten auffallend schönen Frauen war auch sie an die offene Bewunderung der Männer gewöhnt, und auch Lord John brachte ihr diese entgegen. Doch unter der Bewunderung lag für gewöhnlich eine tiefere Aufmerksamkeit, subtiler als Blick oder Geste, eine Vibration wie der entfernte Klang einer Glocke, eine instinktive Bestätigung, daß man sie als Frau wahrnahm. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie geglaubt, dies bei Lord John zu spüren, doch bei den darauffolgenden Begegnungen war es fortgewesen, und sie war zu dem Schluß gekommen, daß sie es anfangs irrtümlich angenommen hatte.
Sie hätte es schon eher erraten können, dachte sie; sie hatte diese innere Gleichgültigkeit schon einmal erlebt, beim Zimmergenossen eines beiläufigen Freundes. Andererseits verbarg Lord John es sehr gut; sie wäre nie darauf gekommen, wäre sie ihm nicht zufällig im Hof begegnet. Nein, sie brachte ihn nicht zum Klingen. Doch als er aus dem Dienstbotenquartier gekommen war, da hatte er gedröhnt wie eine Alarmglocke.
Sie fragte sich kurz, ob ihr Vater es wußte, verwarf die Möglichkeit dann aber wieder. Nach seinen Erfahrungen im Gefängnis von Wentworth konnte er unmöglich solch liebevolle Hochachtung, wie er sie für Lord John empfand, für einen Mann mit dessen Vorlieben hegen.
Sie drehte sich auf den Rücken. Die glänzende Baumwolle des Lakens glitt liebkosend über die nackte Haut ihrer Brüste und Oberschenkel. Sie bemerkte das Gefühl unbewußt, und als sich ihre Brustwarze versteifte, hob sie automatisch die Hand, um ihre Brust zu umfassen, spürte in der Erinnerung Rogers große, warme Hand - und eine unvermittelte Welle des Verlangens. Dann fühlte sie in der Erinnerung den plötzlichen Griff groberer Hände, die sie kniffen und rieben, und das Verlangen verwandelte sich augenblicklich in ohnmächtige Wut. Sie warf sich auf den Bauch, die Arme unter den Brüsten gekreuzt und das Gesicht in ihrem Kissen vergraben, die Beine zusammengeklemmt und die Zähne in sinnloser Selbstverteidigung zusammengebissen.
Das Baby war ein großer, unbequemer Kloß; inzwischen war es unmöglich geworden, so zu liegen. Mit einem leisen, halb ausgesprochenen Fluch drehte sie sich um und wälzte sich aus dem Bett, fort von den verräterischen, verführerischen Laken.
Sie ging nackt durch das halbdunkle Zimmer, stellte sich erneut ans Fenster und blickte hinaus auf den niederprasselnden Regen. Ihr Haar hing ihr feucht über den Rücken, und Kälte kam durch das Glas und überzog die weiße Haut auf ihren Armen, Beinen und ihrem Bauch mit einer Gänsehaut. Sie machte weder Anstalten, sich zu bedecken, noch zurück ins Bett zu gehen, sondern stand einfach nur da und blickte hinaus, eine Hand auf ihrem Kugelbauch, in dem es sanft zappelte.
Bald würde es zu spät sein. Schon als sie aufbrachen, hatte sie gewußt, daß es zu spät war - und ihre Mutter auch. Doch keine von ihnen hatte es der anderen eingestehen wollen; sie hatten beide so getan, als würde Roger rechtzeitig zurückkehren, als würde er mit ihr nach Hispaniola segeln, als würden sie den Rückweg durch die Steine finden - zusammen.
Sie legte ihre andere Hand auf das Glas; sogleich bildete sich ein Nebel aus Kondenswasser entlang der Umrisse ihrer Finger. Es war Anfang März; vielleicht blieben ihr noch drei Monate, vielleicht weniger. Die Reise zur Küste würde eine Woche dauern, vielleicht zwei. Doch kein Schiff würde im März die verräterischen Outer Banks riskieren. Anfang April, frühestens, bevor die Reise unternommen werden konnte. Wie lange bis zu den Westindischen Inseln? Zwei Wochen, drei?
Also Ende April. Und ein paar Tage, um ins Landesinnere zu gelangen, die Höhle zu finden; es würde langsam vorangehen, sich im achten Monat durch den Dschungel zu
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