Der Ruf Der Walkueren
das Wilde Heer ihn traktierte, ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben zu nehmen. Plötzlich befanden sich zwei weitere Hände neben ihm, und der Stamm geriet in Bewegung. In diesem Moment war Hagen für Sigfrids Anwesenheit dankbar. Mit vereinten Kräften zogen sie an dem Baum, und es gelang ihnen, den Stamm so weit anzuheben, dass Gislher sich darunter hervorwinden konnte.
Die brennende Eiche knirschte verdächtig. »Weg hier!«, schrie Hagen, packte Gislher unter den Achseln und schleifte ihn aus der Gefahrenzone. Unter schrecklichem Getöse stürzte der entflammte Baum und zerschmetterte die Buche. Das hätte ich sein können, dachte Gislher wie betäubt.
Hagen war halb blind von Erdkrumen, die ihm immer wieder ins Auge flogen. Erbittert verfluchte er seine Behinderung. Andere Menschen kniffen einfach das Auge zu, wenn sie etwas hineinbekamen, und benutzten das andere, bis die Tränenflüssigkeit den Schmutz fortgespült hatte. Wenn er sein Auge schloss, war er handlungsunfähig.
Wodan wühlte die Erde auf, katapultierte Moos, Sand und Lehm durch die Luft und gebärdete sich wie rasend. Die beiden Männer, die seinem Opfer zu Hilfe gekommen waren, schienen ihn noch mehr in Wut zu versetzen. Brüllend ließ er einen Hagel aus Steinen, Dreck und Gehölz auf die Rücken der Krieger niedergehen. Das Wilde Heer brauste unter grimmigem Geschrei durch Bäume und Felsspalten und umtanzte die Fliehenden.
»Bringt Gislher in Sicherheit, ich decke Euren Rückzug«, rief Hagen und wandte sich um. Obwohl eine kalte Hand sein Herz umklammert hielt, trat er mutig dem Asen entgegen. Um Gislher zu schützen, würde er es mit jedem Feind aufnehmen, selbst mit einem Gott.
»Glaubt Ihr, ich werde Euch mit dem Wilden Heer allein lassen?«, schnaubte Sigfrid. Mimung blitzte in seiner Hand.
Hagen wollte etwas erwidern, aber dann lenkte er ein. »Gehen wir gemeinsam«, sagte er.
Wie durch ein Wunder schien Gislher nichts gebrochen zu haben, er humpelte, sich die Tränen verbeißend, voran, während die beiden Männer mit gezogenen Schwertern ihre Flucht sicherten.
Es kam Hagen gar nicht in den Sinn, sich vor Wodan zu fürchten. Was Zorn anbetraf, so konnte er es jederzeit mit dem Obersten der Götter aufnehmen. »Er gehört mir, alter Mann, hörst du?«, schrie er gegen die Amok laufende Natur an. Etwas zischte auf Hagen zu, und ehe er ausweichen konnte, traf ihn ein abgebrochener Ast. Wild hieb er auf die heranfliegenden Gegenstände ein, obwohl er kaum etwas sah.
Sigfrid wehrte die Wurfgeschosse nur halbherzig ab. Sein Herz klopfte hart. Ob Wodan auch jetzt, da er sich gegen ihn stellte, sein Schutzversprechen ihm gegenüber halten würde? Er vergewisserte sich, dass das Amulett um seinen Hals hing, und spürte zu seiner Beruhigung die Macht von ansuz , der Rune des Asen, in seiner Hand.
Ohne Übergang befanden sie sich außerhalb des Waldes. Schlagartig ließ das Unwetter nach, als respektiere Wodan ihren Mut. Vielleicht hatte er auch nur ein lohnenderes Ziel für seinen Zorn entdeckt. In der Ferne preschte das Wilde Heer vorüber. Die dunklen Wolken machten den ersten hellen Flecken am Himmel Platz, die Sonne brach hervor und brachte das Land zum Dampfen. Erschöpft ließen sich die drei Menschen ins Gras fallen.
4
Axtschläge wiesen Grimhild den Weg. Mit wehenden Haaren stürzte sie in die Baracke, in der die Niflungen das Feuerholz zum Trocknen lagerten. Dort fand sie ihren Lieblingsbruder beim Holzspalten. »Gislher«, rief sie, »ist dir etwas passiert?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, fiel sie ihm um den Hals und fing an zu schluchzen.
Gislher hatte sein lebensgefährliches Abenteuer schon halb vergessen. Seine Gedanken kreisten um andere Dinge. Übermorgen, am Abend vor Mittsommer, würde wie alle Jahre das Sonnenwendfeuer entzündet werden, ein Riesenspaß! Jeder musste seinen Teil dazu beitragen, um die Götter versöhnlich zu stimmen, deshalb schlug er Feuerholz. Grimhilds Gefühlsausbruch überrumpelte ihn. Er legte die Axt beiseite und hielt seine Schwester fest. »Ist ja alles in Ordnung«, beruhigte er sie und kam sich sehr erwachsen dabei vor.
Grimhild rang um Beherrschung. »Ich bin so froh, dass du lebst!«, sagte sie und fing vor Erleichterung wieder an zu schluchzen. Schließlich wischte sie die Tränen fort und nahm ihren Bruder in Augenschein, um sicherzugehen, dass ihm auch wirklich nichts fehlte. Sie zauste ihm das Haar, eine Angewohnheit, die sie von ihrer Mutter hatte und die Gislher zutiefst
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