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Der Ruf Der Walkueren

Der Ruf Der Walkueren

Titel: Der Ruf Der Walkueren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Kunz
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die vom Tisch fiel und auf dem Boden zersprang. Hagen betrachtete die Scherben. Es war ihm, als läge dort er selbst, geborsten in ungezählte Splitter.
    Seine Fantasie schuf grausame Varianten von Liebesgeflüster, heißem Atem und schwitzender Haut. Er wandte den Blick ab, doch Grimhilds Lächeln folgte ihm. Er schloss sein Auge, doch ihr Geruch war schon da und erwartete ihn. Er grub seine Fingernägel in die Handballen, aber das genügte nicht, um die Trugbilder zu vertreiben. Er brauchte ein stärkeres Gegengift für den Schmerz.
    Er bückte sich, hob eine Scherbe auf und betrachtete sie, als habe er sie nie zuvor gesehen. Dann trieb er sie ohne Hast in seinen Unterarm, bis sie in seinem Fleisch verschwand. Für eine kleine Weile machte die Vision der beieinanderliegenden Körper wohltuendem Frieden Platz, ehe sie mit doppelter Heftigkeit zurückkehrte.
    Mit beiden Händen fegte Hagen die Scherben zusammen und legte sie vor sich auf den Tisch. Dann nahm er eine nach der anderen und bohrte sie sich methodisch in den Körper. Zuerst pflanzte er lange Reihen von Splittern in seine Arme, seine Beine, seine Brust, in gleichmäßigen Abständen wie ein Blumenbeet. Dann füllte er die Lücken dazwischen, bis sein Leib ein einziges Meer aus Wunden war. Schließlich musste er auf der blutverschmierten Oberfläche seiner Haut suchen, um noch eine freie Stelle zu finden. Und der Schmerz, den ihm diese Arbeit bereitete, war nichts, überhaupt nichts verglichen mit dem Schmerz in seinem Herzen, der sich durch keine Marter besänftigen ließ.
6
    Als die ersten Strahlen der Morgensonne das Fenster erreichten, erhob sich Brünhild. Sie hatte die ganze Nacht wach gelegen und sich Sigfrids und Grimhilds Brautlager in allen Einzelheiten ausgemalt, jetzt konnte nichts Schlimmeres mehr kommen. Sie würde ihren Gemahl befreien, und wenn er sie umbrachte, umso besser. Wie eine Wiedergängerin ging sie zur Truhe, ließ das Schloss aufschnappen und trat einen Schritt zurück. Nichts geschah. Warum klappte er nicht den Deckel hoch und kam heraus? Sie nahm ihren Mut zusammen und öffnete die Truhe. Der Ausdruck in Gunters Augen erschütterte das Bollwerk der Gefühllosigkeit, mit dem sie sich gewappnet hatte. Sie drehte ihm den Rücken zu.
    Mühsam kroch der Niflunge aus der Truhe. Nacken und Rückgrat waren steif und erlaubten ihm nicht einmal soviel Würde, dass er in aufrechter Haltung heraussteigen konnte. Kaum war er über das Holz geklettert, fiel er auf die Knie wie ein Tier. Wie tief würde er noch sinken? Welche Erniedrigung musste er noch ertragen? Er ignorierte den Schmerz und brachte sich in eine halb aufrechte Position mit gekrümmtem Rücken. Weiter kam er nicht, und selbst dazu brauchte er eine Ewigkeit. Gunter ballte die Fäuste. Es war demütigend, so vor seiner Frau zu stehen.
    Brünhild nahm seine Schwierigkeiten aus den Augenwinkeln wahr, biss sich auf die Lippen und betrachtete das Muster der Teppiche auf dem Boden. Sie wünschte sich, weit fort zu sein.
    Mit einer übermenschlichen Anstrengung gelang es Gunter, sich aufzurichten. Er keuchte und musste sich an der Wand abstützen. Eine Weile stand er reglos da, die Augen geschlossen, bis der Schmerz in seinem Rückgrat abebbte. Dabei ging ihm der Gedanke durch den Kopf, dass es nun Zeit für die Morgengabe war, für das Geschenk des Mannes an seine Gemahlin am Morgen nach der Brautnacht. Beinahe hätte er gelacht. Beinahe.
    Er atmete tief durch, hielt sich am Bettpfosten fest, angelte nach seinem Hemd, das vor dem Bett am Boden lag, und zog es an. Um sich die Schuhe überzustreifen und zu schnüren, musste er niederknien. Mit zusammengebissenen Zähnen erhob er sich und legte das Schwert an. Lächerlich! Er war von seiner eigenen Frau in eine Truhe gesperrt worden und tat jetzt so, als sei er ein Mann. Aber schließlich hatte er ja auch sein halbes Leben lang so getan, als sei er ein König, auf eine Täuschung mehr oder weniger kam es also nicht an. Er streckte sich, bis er sicher war, dass ihm sein Körper wenigstens für den Augenblick gehorchen würde. Dann sammelte er sich, und als er glaubte, genügend Kraft aufbringen zu können, um die Verachtung, die er für sich selbst empfand, mit soviel königlicher Würde zu überdecken, dass seine Gefolgsleute nicht auf der Stelle in Gelächter ausbrachen, ging er wortlos hinaus.
    Brünhild war darauf gefasst gewesen, von ihm geschlagen zu werden. Sie war sogar darauf gefasst gewesen, jetzt und hier den Tod zu finden.

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