Der Ruf Der Walkueren
zerriss die Bewusstseinstrübung, und zum ersten Mal seit ihrer Abreise aus Svawenland konnte sie wieder klar denken. Alles, was sie besaß, war die Erinnerung an eine Liebesnacht, die ihr mehr bedeutete als ihr Leben. Ein Beilager mit dem Niflungenkönig würde das alles hinwegfegen, als sei es nie geschehen. Es würde ihr die Vergangenheit und ihre Seele rauben. Sie musste etwas tun, bevor … bevor das Unvermeidliche geschah.
Die stumme Reglosigkeit seiner Braut verunsicherte Gunter. Wie behandelte man eine Frau in der Brautnacht? Er wollte ihr gern die Zeit geben, die sie brauchte, um sich zurechtzufinden. Andererseits konnten sie nicht die ganze Nacht verlegen vor dem Bett stehen. Er wünschte, jemand würde ihm sagen, was zu tun war. Zögernd schnürte er seine Schuhe auf und schlüpfte heraus. Dann zog er sich das Hemd über den Kopf.
Für den Bruchteil eines Augenblicks war sein Blickfeld verdeckt, das genügte Brünhild. Ohne nachzudenken zog sie ihren Dolch.
Plötzlich fühlte er die kalte Klinge an seinem Hals. Er erstarrte.
»Rühr dich nicht! Ich kann mit einem Dolch umgehen, und, glaub mir, ich werde ihn benutzen.« Er setzte zu einer Frage an, aber eine unwillige Bewegung von ihr brachte ihn zum Schweigen. »Ich würde dich eher töten, als dir zu Willen zu sein.«
»Du bist meine Frau«, sagte er verständnislos.
»Ich werde dir niemals gehören.«
Meinte sie es ernst? Auf eine Situation wie diese war Gunter nicht vorbereitet.
Gehetzt irrten Brünhilds Augen umher. Ihr Blick fiel auf eine zerschrammte Truhe, in der Wäsche aufbewahrt wurde. Dorthin zerrte sie ihren Gemahl. »Öffne die Truhe!« Entgeistert gehorchte er. »Hinein mit dir!«
»Genug jetzt! Gib mir den Dolch!«
Sie verstärkte den Druck der Klinge. Ein Blutstropfen rann seinen Hals hinunter. »Hinein mit dir!«, wiederholte sie. »Das wird dich abkühlen.«
Die Erkenntnis, dass sie nichts für ihn empfand, war es, die ihn mit einem Schlag jeder Kraft beraubte. Er sah sie an, und sie schien ihm schöner und begehrenswerter denn je. Aber sie liebte ihn nicht, respektierte ihn nicht einmal. Willenlos stieg er in die Truhe. »Brünhild …«
Sie konnte den Anblick seiner Augen nicht ertragen. »Leg dich hin!«, schrie sie.
»Ich liebe dich«, sagte er dumpf. Und dann, weil er nichts anderes sagen konnte, weil er nicht wusste, wie er mit ihr sprechen musste, um sie von der Aufrichtigkeit seiner Gefühle zu überzeugen: »Ich liebe dich.«
Sein Tonfall traf sie wie ein Hieb in die Magengrube. Aber ihre Furcht vor dem, was geschehen würde, wenn sie aufhörte, etwas zu tun – irgendetwas, ganz gleich, was es war –, erstickte jeden Zweifel. Wer handelte, hatte sein Leben noch in der Hand, war es nicht so? Wer handelte, besaß noch Hoffnung.
Widerstandslos quetschte Gunter sich in die Truhe. Er musste sich hinknien und den Kopf beugen, um hineinzugelangen. Brünhild schlug den Deckel zu und hakte das Schloss ein. Dann erst ließ sie die Hand mit dem Dolch sinken. Im gleichen Moment verließ sie ihre Entschlossenheit. Was nun? Wie ging es weiter? Sie hatte nur bis zum nächsten Augenblick gedacht, ohne zu überlegen, was danach kam. Am liebsten wäre sie wieder in den betäubten Zustand von vorher zurückgefallen. Sie zitterte immer noch, vielleicht sogar stärker als vorher. Der Dolch entfiel ihrer Hand und schlug auf dem Boden auf. Sie wollte weinen, aber sie versagte sich die Tränen. Was nützten Tränen, wenn die Nornen beschlossen hatten, ihr Leben zu zerstören?
Sie sah zur Truhe. Hatte Gunter genug Luft zum Atmen? Sicher. Der Deckel stand über, ersticken würde der Niflungenkönig nicht. Brünhild legte ein Ohr an das Holz. Im gleichen Augenblick wünschte sie, sie hätte es nicht getan. Die Geräusche von der anderen Seite entbehrten jeder Menschlichkeit. Es war das Wimmern von jemandem, der jegliche Hoffnung fahren lassen hatte.
Hastig riss sie ihr Ohr zurück. Das Klopfen ihres Herzens ließ sich nicht unter Kontrolle bringen. Wie eine alte Frau erhob sie sich. Irgendwie gelang es ihr, ein Nachthemd überzustreifen und sich ins Bett zu legen. Sie fror, trotz der warmen Sommernacht. Sie starrte an die Decke, malte sich aus, wie Sigfrid und Grimhild beieinander lagen, und weinte leise. Sigfrid! Sigfrid! Er sollte jetzt bei ihr sein, sie sollte in seinen Armen liegen! Sie krümmte sich zusammen und presste eine Faust in den Mund, um nicht zu schreien. Das Zittern kam nun nicht mehr in Schüben, sondern
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