Der Ruf Der Walkueren
waren. Er erhob sich und sah sich um, konnte jedoch nichts entdecken.
Hier und da fiel Sonnenlicht durch Lücken im Blätterdach und erfüllte das kühle Dämmerlicht mit hellen Strahlen, die etwas Magisches hatten. Sigfrid atmete schwer. Kein Wunder, dass die Wälder heilig waren! Sie bewahrten die Ekstase des Lebens. Sein nackter Brustkorb hob und senkte sich aus schierer Lust am Atmen. Mit ausgebreiteten Armen sog er die Luft ein, und ein unbegreifliches Glücksgefühl machte ihn schwindlig. Er verspürte den Wunsch, sich mit einem lauten Schrei Luft zu machen, aber aus einem unbestimmten Gefühl heraus versagte er es sich, dem nachzugeben. Es schien ihm eine Entweihung.
Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, ging er auf das Licht zu. Der Wald wurde mit jedem Schritt dichter, das Flüstern im Geäst ebenfalls. Unsichtbare Hände schienen nach ihm zu greifen, wenn er sich durch Brombeerbüsche und Holundersträucher zwängte, Dornen rissen an seiner Hose. Er mühte sich, ihnen auszuweichen, dennoch streifte immer öfter etwas sein Haar oder berührte seine Arme. Er blieb stehen. Seine Hand strich über die Borke einer Eiche.
»Das kitzelt«, kicherte eine helle Stimme.
Sigfrid fuhr herum, sah jedoch nichts außer tanzenden Schatten. Seine Augen strengten sich an, das Halbdunkel zu durchdringen. Natürlich wusste er wie jedermann, dass Bäume von geisterhaften Wesen beseelt waren, aber gesehen hatte er noch nie eines von ihnen. Versuchsweise streichelte er erneut die rissige Haut der Eiche. Das Kichern sprang von Oktave zu Oktave und nahm kein Ende. Jetzt glaubte er, sie zu erkennen, eine zierliche, feingliedrige Dryade. Erst dachte er, er sei auf Zweige hereingefallen, die sich im Luftzug bewegten und durch die Dämmerung ein geheimnisvolles Aussehen erhielten. Aber gleich darauf hörte er wieder ihr Gelächter. Sie musste die Seele der Eiche sein. In seiner Gürteltasche suchte Sigfrid nach etwas, das er ihr als Opfer darbringen konnte. Da er nichts fand, löste er seine Lederflasche und goss etwas Wasser über die Baumwurzel.
»Danke!«, fispelte sie. Ihre zarte Stimme war wie das Säuseln des Windes. Sie wiegte sich auf nymphenhafte Weise am Rande seines Gesichtskreises. Stets erhaschte er ihre Bewegung aus den Augenwinkeln, und wenn er genau hinsehen wollte, war sie nicht mehr da.
»Was ist? Was machst du?«, rief er.
»Ich lausche der Musik des Waldes.«
»Musik? Ja, ich glaube, ich habe sie auch gehört.«
»Die Gräser und Blätter und Büsche singen.«
Jetzt, da sie es erwähnte, schien ihm auch, als vernähme er Gesang, der sich jedoch sofort wieder seiner Wahrnehmung entzog. Er tat sein Bestes, sich zu konzentrieren, aber außer dem Knarren von Ästen und zwitschernden Vögeln bemerkte er nichts. »Warum kann ich die Musik nicht hören?«
»Menschen lassen sich zu leicht ablenken.« Diesmal kam ihre Stimme aus einem Gebüsch.
Er stürzte hin, aber sie lachte ihn aus sicherer Entfernung aus. »Ich möchte dich sehen«, bat er.
»Warum?« Das kam aus einer Krone.
»Man sagt … man sagt, ihr seid sehr schön.«
»Stimmt«, erwiderte sie kokett und drehte sich um sich selbst. Jedenfalls vermutete er das, denn in seiner Nähe wirbelten Blätter durch die Luft.
Für einen Augenblick zeigte sie sich ihm. Im Zwielicht konnte er erkennen, wie licht und anmutig sie war, zart wie eine Lilie. »Du bist wirklich schön!«, flüsterte er atemlos.
Sie kicherte. »Soll ich dich küssen?«, fragte sie keck, und als er sich zu ihrer Stimme umdrehte, lachte sie wieder weit entfernt ihr helles Lachen.
Plötzlich fühlte er ihren Kuss auf seiner Wange. Er war kühl wie ein Tautropfen, aber dennoch verlockend. Friedsam, vegetativ, und doch verführerisch. Sigfrid berührte die Stelle, wo sie ihn geküsst hatte, mit einem Finger. »Jetzt hierhin«, lächelte er und deutete auf seine Lippen.
»Lieber nicht. Du würdest nicht wollen, dass ich dich auf den Mund küsse.«
»Warum nicht?«
»Weil du mir dann verfallen wärst.«
Eilig wich Sigfrid einen Schritt zurück.
Sie lachte über seine Reaktion und jagte durch die Wipfel der Bäume. »Viel lieber zerzause ich dir deine Locken«, hauchte sie an seinem linken Ohr. »Du fängst die Sonne darin.« Etwas fuhr ihm durchs Haar und raufte seine Strähnen. Offensichtlich gefiel es ihr, ihn zu necken. »Musst du nie frieren, weil du die Sonne bei dir trägst?«, fragte das Stimmchen, jetzt an seinem anderen Ohr.
Ihre Schwärmerei machte ihn verlegen. »Wie
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