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Der Ruf Der Walkueren

Der Ruf Der Walkueren

Titel: Der Ruf Der Walkueren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Kunz
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angewurzelt in der Menge und starrte sie an, völlig unvorbereitet auf die Macht, mit der seine Gefühle wiederaufflammten. Ein Blitz hätte ihn nicht stärker durchschlagen können. Jede ihrer Gesten, ihrer Blicke war ihm so vertraut, als hätte er sie gestern zum letzten Mal gesehen. Vier Jahre der Trennung waren wie ausgelöscht, als hätten sie nie existiert. Er stöhnte qualvoll. Es konnte einfach nicht sein! Es durfte nicht sein! Er hatte dies doch alles längst überwunden! Warum kostete es ihn seine ganze Kraft, der Versuchung zu widerstehen, die Hände nach ihr auszustrecken? Der nie beendete Satz jener Mittsommernacht steckte ihm plötzlich wieder in der Kehle und schnürte ihm die Luft ab.
    »Hagen! Ich freue mich, dich gesund zu sehen.« Grimhild umarmte ihn.
    Er hielt ihren Körper, spürte ihre Wärme, roch das Rosenöl, das sie so liebte, und seine Seele war, jeglichen Schildes beraubt, dem Angriff der Gefühle wehrlos ausgeliefert.
    Niemandem fiel auf, dass er sich davonstahl und in der Großen Halle verschwand. Drinnen war der Lärm vom Hof nur noch gedämpft zu hören. Still setzte sich Hagen auf eine mit zerbrochenen Fliesen bedeckte Bank und starrte durch das Loch in der Decke. Es war nicht gerecht! Warum hatte Grimhild solch eine Wirkung auf ihn? Er wollte sie vergessen. Vergessen! Er presste die Fäuste gegen seine Schläfen und gestand sich endlich ein, dass es ihm nie gelingen würde, sie aus seinem Herzen zu verbannen.
3
    Aus dem Dickicht der Farne tauchte Grimhilds silberblonder Haarschopf auf. Die Niflunge wischte sich den Schweiß von der Stirn und lächelte. Seit ihrem Aufbruch von Tarlungenland hatte sie sich darauf gefreut, ihre Mutter wie früher beim Kräutersammeln zu begleiten. Jetzt war die beste Zeit dazu: Die Pflanzen waren noch jung, aber schon voll entfaltet und die Blüten noch nicht bestäubt. Die Frauen waren zeitig aufgebrochen, denn Blüten und Blätter mussten vormittags gepflückt werden, wenn der Morgentau bereits getrocknet war, die Tageshitze aber noch nicht die flüchtigen Öle ausgetrieben hatte. Der Gesang der Vögel und die wärmende Sonne öffneten Grimhilds Herz. Es war schön, mit ihrer Mutter durch den Wald zu streifen und den Geruch des Niflungenlandes zu atmen. Fast fühlte sie sich wieder wie ein Kind.
    Mit einem scharfen Messer schnitt sie einige Bärlauchstängel ab, ohne die Wurzeln zu beschädigen, säuberte sie von Erde und legte sie so, dass die Blätter nicht gedrückt wurden, in ein luftdurchlässiges Körbchen. Der ganze Wald roch nach dem aromatischen Gewächs, Grimhild liebte das. In den anderen Körben hatte sie bereits Huflattich, Sauerklee, Schlüsselblumen und Wiesenschaumkraut gesammelt. Körperliche Arbeit wie diese lag ihr mehr als das Herrschen, ging ihr plötzlich durch den Sinn. Zwar hatte sie in Tarlungenland einige unvermutete Talente in sich entdeckt, aber es fiel ihr schwer, zu jeder Zeit und überall Antworten für die Menschen bereit zu halten, die sie mit unerwarteten Fragen überfielen.
    Grimhild richtete sich auf und streckte ihren schmerzenden Rücken. Genug Bärlauch, jetzt waren Brennnesseln dran. Sie wickelte sich Stoffbänder um ihre Hände und pflückte einen ganzen Busch davon. Immer wieder unterbrach sie ihre Arbeit, um ihre juckenden Arme zu kratzen. Gleichgültig, wie gut man sich zu schützen versuchte, die Nesseln stachen hindurch.
    Oda kam zu ihr und kratzte sich ebenfalls. Die beiden sahen sich an und brachen in Gelächter aus. Grimhild umarmte ihre Mutter spontan. »Es ist schön, wieder bei euch zu sein«, sagte sie.
    Oda wiegte sie hin und her. »Bist du glücklich in deinem neuen Leben?«
    »Ich bin glücklich mit Sigfrid. Aber   … ich wünschte, wir müssten nicht da leben. Das Leben dort ist so schlicht. Es gibt keine Kerzen und kein Glas, alles ist aus Holz und kaum bemalt. Weißt du noch, wie ich als Kind das Fußbodenmosaik der Großen Halle bewundert habe? Dass die Steine, die jeder für sich doch nur eine einzige langweilige Farbe hatten, zusammen etwas so Schönes ergaben, war für mich ein Wunder.« Sie seufzte. »Ich vermisse Niflungenland.«
    »Warum habt ihr keine Kinder?«
    Grimhild befreite sich abrupt. Typisch für ihre Mutter, mit einer dahingesagten Bemerkung gleich die tiefste Wunde zu treffen! »Ich hatte zwei Totgeburten«, sagte sie mit distanzierter Stimme, als spräche sie über irgendeine unbekannte Frau und nicht über sich selbst. Vor ihren Augen entstand das Bild des kleinen

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