Der Ruf Der Walkueren
Wesens, das ihre Tochter geworden wäre, und eine Träne glitzerte auf ihrer Wange. Dabei hatte sie getan, was in ihren Kräften stand, um wenigstens dieses zweite Kind am Leben zu erhalten. Die weise Frau in König Sigmunds Burg hatte ihr Kräutertränke aus chamomilla, alchemilla und melissa bereitet und Räucherungen mit Wacholder vorgenommen. Außerdem hatte sie, während Grimhild eine kauernde Hockstellung einnahm, ihren Leib mit kundigen Fingern geknetet und dabei Frija um Beistand angerufen. Vergeblich. Das Kind war zu schwach gewesen. Grimhild erinnerte sich an Sigfrids gramerfülltes Gesicht, als er den Leichnam sah, an seine Bitten vor der Niederkunft, ihr beistehen zu dürfen, da sie bereits eine Fehlgeburt gehabt hatte. Aber es war Sache der Frauen, ein Kind auf die Welt zu bringen, und sie hatte abgelehnt. Wieder schossen ihr Tränen in die Augen. Wie dumm von ihr! Sie hätte seinen Trost gebraucht.
Vorsichtig berührte Oda ihre Tochter an der Schulter. »Warum hast du es mir nie mitgeteilt?«
»Ich konnte nicht. Ich … beim zweiten Mal wäre ich beinahe selbst gestorben.« Grimhild wehrte sich dagegen, dass ihre Mutter sie in ihre Arme zog; sie war kein kleines Kind mehr! Aber zu ihrer Überraschung klammerte sie sich plötzlich an sie und weinte heiße Tränen.
Oda hielt sie und flüsterte ihr beruhigende Nichtigkeiten ins Ohr, bis sich der schluchzende Körper in ihren Armen allmählich beruhigte. Sie fand selbst Trost in der Umarmung, denn auch sie trug eine Bürde, die sie niemandem anvertrauen konnte. So sehr sie mit Grimhild fühlte – ihre Tochter würde den Schmerz überwinden und mit neuen Kräften um ihr Glück kämpfen. Von all ihren Kindern war es Gunter, der Oda am meisten Sorgen machte. Ausgerechnet Gunter, der nach außen hin ihre Anteilnahme am wenigsten zu brauchen schien. Er war König, er hatte eine schöne Frau, er war beliebt unter seinen Männern. Aber in seinem Herzen, das wusste Oda, war er kein Kämpfer. Er wusste nicht, wie man das Herz einer Frau wie Brünhild erobert. Er nahm an, dass es genügte, sein Bestes zu geben, ohne dies unnötig zu betonen. Doch manchmal musste man die Menschen mit der Nase auf das Offensichtliche stoßen, damit sie es erkannten. Eine Frau wie Brünhild, die stolz und unabhängig war, verglich Gunter mit Kriegern wie Sigfrid oder Hagen, und dieser Vergleich musste unweigerlich zu seinem Nachteil ausfallen. Oda hätte sie gern geschüttelt und dazu gebracht, aufzuwachen und unter die Oberfläche zu sehen. Aber vielleicht musste man erst ihr Alter erreicht haben, um dazu in der Lage zu sein. Vielleicht würde die Sächsin von selbst dahinterkommen, wenn sie älter wurde. Wenn ihr und Gunter dazu noch die Zeit blieb.
4
Brünhild hatte Sigfrid um ein Treffen im Speicher gebeten. Hier waren sie ungestört. Hier konnten sie sagen, was gesagt werden musste. Als er den Raum betrat, wurde ihr vor Erleichterung beinahe schlecht. Irgendwie war sie überzeugt gewesen, dass im letzten Augenblick wieder etwas dazwischenkam. Schnellen Schrittes ging sie auf ihn zu. »Sigfrid!« Nur dieses eine Wort brachte sie heraus. Sie hätte sich am liebsten geohrfeigt. Nächte, Monate, Jahre hatte sie damit zugebracht sich auszumalen, was sie ihm alles sagen würde, wenn sie ihm endlich Auge in Auge gegenüberstand. Sie hatte sich Bitten und Flüche ausgemalt, Beschimpfungen und Erklärungen. Und jetzt konnte sie nichts als seinen Namen flüstern.
Sigfrid befand sich in keiner guten Verfassung. Letzte Nacht war der beunruhigende Traum wiedergekehrt, der ihn seit Jahren heimsuchte. Feuer, eine Waberlohe, Sleipnir, der Schildwall. Und eine Walküre ohne Gesicht. Jedes Mal, wenn er diesen Traum träumte, unternahm er alles Menschenmögliche, um das Gesicht zu erkennen, doch es gelang ihm nie. Immer fühlte er sich anschließend bedrückt und erschöpft. Er wäre jetzt lieber eine Weile allein gewesen, aber Brünhilds Bitte hatte dringend geklungen. Nur, warum sagte sie nichts? Worauf wartete sie? Wenn er sich doch nur ein bisschen besser mit Frauen auskennen würde!
Das Schweigen dehnte sich so lange, dass Brünhild kurz davor war zu schreien. Irgendwie hatte sie erwartet, dass er ihr wenigstens, wenn sie allein waren, eine Erklärung geben würde, so halbherzig sie auch ausfallen mochte, aber er … er schwieg. »Warum hast du sie zur Frau genommen?«
»Grimhild?« Jetzt war Sigfrids Verwirrung perfekt. Er hatte halb und halb vermutet, dass die Königin mit ihm
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