Der Ruf der Wellen: Roman (German Edition)
schwer. Heiß. An Bord schrieb man dies der Nähe zum Äquator zu.«
»Der Kapitän muss es bereits gewusst haben.«
»Zumindest hätte er es wissen sollen.« Hayden lockerte seine Schultern. »Leider blieben sowohl er als auch das Logbuch spurlos verschwunden. Wie dem auch sei, gegen Mitternacht nach diesem wunderschönen Sonnenuntergang braute sich ein Sturm zusammen, und mit ihm kamen die Wellen. Wenn wir von ihrer Route und Geschwindigkeit ausgehen, müssen sie sich hier befunden haben.« Er bewegte die Justine auf seinem Computerbildschirm weiter in Richtung Süden und dann nach Westen.
»Wahrscheinlich wollte der Kapitän an der Küste Zuflucht suchen, meiner Meinung nach in Costa Rica. Doch als sich plötzlich fünfzehn Meter hohe Wellen vor seinem Schiff auftürmten, hatte er kaum eine Chance mehr.«
»Die ganze Nacht und den nächsten Tag hindurch kämpften sie gegen den Sturm an«, nahm Tate den Faden auf. »Verängstigte Passagiere, weinende Kinder. Sie konnten kaum noch Tag und Nacht unterscheiden oder ihre eigenen Gebete hören. Falls sie mutig oder auch verängstigt genug waren, über das Meer zu schauen, sahen sie eine Wasserwand nach der anderen.«
»Am Abend des 22. brach die Justine auseinander«, führte Hayden weiter aus. »Es bestand keinerlei Aussicht, sie zu retten oder das Schiff an Land zu steuern. Frauen, Kinder und Verletzte stiegen in die Rettungsboote.«
»Ehemänner, die ihre Frauen zum Abschied küssten«, flüsterte Tate. »Väter, die ihre Kinder zum letzten Mal auf dem Arm hielten. Und alle wussten, dass nur ein Wunder sie retten konnte.«
»Es gab nur fünfzehn Überlebende.« Hayden kratzte sich an der Wange. »Ein Rettungsboot hat den Hurrikan überstanden, sonst hätten wir jetzt noch nicht einmal diese mageren Hinweise darauf, wo sich das Schiff befindet.« Er sah auf und bemerkte überrascht die Tränen in Tates Augen. »Es ist sehr lange her, Tate.«
»Ich weiß.« Peinlich berührt, blinzelte sie. »Ich sehe nur so deutlich vor mir, was sie durchgemacht und wie sie sich gefühlt haben müssen!«
»Du siehst es vor dir.« Unbeholfen tätschelte Hayden ihre Hand. »Deshalb bist du eine so gute Wissenschaftlerin. Jeder von uns weiß, wie man Fakten und Theorien ausarbeitet, aber die meisten Kollegen lassen leider deine Vorstellungskraft vermissen.«
Er wünschte, er könnte ihr ein Taschentuch anbieten. Oder es wagen, ihr die kleine Träne, die gerade ihre Wange
hinunterrollte, abzuwischen. Stattdessen räusperte Hayden sich und wandte sich wieder seinen Berechnungen zu.
»Ich werde vorschlagen, dass wir zehn Grad südsüdwestlich weitersuchen.«
»Wie kommst du darauf?«
Erfreut über ihre Frage, begann er, ihr seine Gründe auseinander zu setzen.
Tate stand auf und stellte sich hinter ihn, um so einen besseren Blick auf die Bildschirme und Haydens hastig hingeworfenen Notizen zu haben. Hin und wieder legte sie ihre Hand darauf oder beugte sich näher zu ihm herunter, um etwas genauer sehen zu können oder eine Frage zu stellen.
Jedes Mal, wenn sie ihm nahe kam, setzte Haydens Herz für einen Schlag aus. Er schalt sich einen Narren, sogar einen alten Narren, aber das änderte nichts an seinen Gefühlen.
Der Duft ihrer Seife und ihrer Haut stieg ihm in die Nase. Wenn sie auf ihre tiefe, verführerische Art lachte, umnebelte sich sein Hirn. Er liebte alles an ihr, ihren scharfen Verstand, ihre Herzlichkeit, und wenn er sich den Gedanken daran gestattete, auch ihren schlanken, geschmeidigen Körper. Ihre Stimme klang wie Honig auf Zucker.
»Hörst du?«
Wie konnte er außer ihrer Stimme etwas anderes wahrnehmen ? »Was meinst du?«
»Das.« Sie deutete nach oben, von wo ein Motorengeräusch zu hören war. Flugzeuge, dachte sie und grinste. »Das müssen die Lebensmittel sein. Komm schon, Hayden. Lass uns nach oben gehen und zusehen, dann kommst du auch mal an die Sonne.«
»Aber ich bin noch nicht mit meinen –«
»Nun komm schon.« Lachend ergriff sie seine Hand und zog ihn auf die Füße. »Du vergräbst dich hier unten wie ein Maulwurf. Nur ein paar Minuten an Deck …«
Natürlich ließ er sich überreden und fühlte sich dabei tatsächlich wie ein Maulwurf, der einem Schmetterling hinterherjagt.
Sie hatte wirklich wunderschöne Beine. Er wusste, dass er sie nicht anstarren sollte, aber sie sahen so unglaublich hell aus, fast wie Alabaster. Und dann das kleine Muttermal direkt über ihrer rechten Kniekehle …
Wie gern hätte er seine Lippen genau an
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