Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
seine Aufgabe erfüllt zu haben, nicht wenn er der Mann war, von dem sie zu glauben begann, dass er es war.
Aber was hatte er vor? Hatte die Erfüllung dieser Mission eine neue Mission nach sich gezogen? Wohin? Eine weitere Nacht des Befragens erschien sinnlos. An wen sich wenden? Moment. Viele Gefangene hatten erwähnt, dass die beiden Männer, die auf Ehrenwort entlassen worden waren – Garneray und Reynard – Johns Verbündete gewesen waren. Sollten sie etwas über seine Absichten wissen? Und Younger hatte sie freigelassen, deshalb wusste er, wo sie die beiden finden konnte.
Sie brauchte ein Bad und etwas Schlaf. Dann war es an der Zeit, Mr. Younger noch einmal aufzusuchen.
Wieder ganz in Schwarz gekleidet, glitt Beatrix durch das dunkle, schlafende Fareham. Über die High ging sie auf die Ostseite der Portsmouth Bay zu, dann verließ sie sie und betrat einen kleinen Hof. Reynard war laut Mr. Younger auf Ehrenwort zu einem älteren Ehepaar entlassen worden, dessen gepflegtes kleines Haus am Ende der winzigen Kehre des Weges lag. Als Gegenleistung für das Versprechen, keinen Fluchtversuch zu unternehmen oder dem Feind zu helfen, war es Offizieren erlaubt, bis zum Ende des Krieges oder bis sie ausgetauscht wurden, in der Bevölkerung zu leben. Das kleine, weiß gekalkte Haus mit den Blumenkästen bot einen Kontrast zu den Gefängnisschiffen, der größer nicht hätte sein können.
Am Haus brannten keinerlei Lichter. Beatrix rief die Dunkelheit herbei und translozierte sich ins Haus, genau hinter die Eingangstür aus rotem Holz. Es war schwerer diesmal, das sechste Mal heute Nacht. Sie war erschöpft. Das Transzlozieren forderte seinen Tribut. Während die wirbelnde Schwärze um sie herum sich auflöste, sah sie, dass sie in einem winzigen Flur stand. Auf Zehenspitzen schlich sie die knarrende Holztreppe hinauf, die zu den Schlafräumen führte. Im Zimmer hinter der ersten Tür, die sie öffnete, befanden sich ein schnarchender Mann und eine korpulente Frau; beide trugen Schlafmützen. Leise schloss Beatrix die Tür wieder. Im nächsten Zimmer schlief ein altes Weib, ohne Zweifel die Mutter eines der beiden Eheleute. Schließlich, in einer winzigen Kammer auf der Rückseite des Hauses unter dem Dachgiebel, saß ein Mann in seinem Bett und starrte sie an.
»Wer sind Sie?«, flüsterte er. »Was wollen Sie?«
»Eine Freundin von St. Siens«, sagte sie und rief ihren Gefährten. Am besten war es, dies schnell zu erledigen und sogleich wieder zu verschwinden. Beatrix’ Augen färbten sich rot, während sie näher trat. »Ich habe einige Fragen.« Sie setzte sich ans Fußende des Bettes, außerhalb seiner Reichweite. Auch wenn sein Name wie das französische Wort für »Fuchs« klang, war er ein Bär von einem Mann. Der Ausschnitt seines Nachthemds stand offen und enthüllte eine Brust voller schwarzer Haare. Seine Augen sahen nur unscharf in der Dunkelheit.
Jetzt, da sie hier war, wusste sie nicht, wie sie beginnen sollte. »Du kanntest St. Siens auf dem Gefängnisschiff?«
»Ja.« Er wisperte genau wie sie.
»Wer war er?«
»Ein Kaufmann und, glaube ich, ein Spion für den Kaiser«, sagte der große Mann.
Das war neu. Wenn John ein Spion war, dann nicht für Bonaparte. »Gab es noch einen Grund, warum er dort war?«
Reynard runzelte die Stirn und dachte nach. »Nicht, dass ich wüsste.«
Eine Sackgasse. Vielleicht wusste dieser Mann gar nichts. Oder vielleicht hatte sie nur noch nicht die richtige Frage gestellt. »Warum wollte er so dringend fliehen?«
»Er hatte wichtige Informationen für die Sache des Kaisers.« Der Mann sprach monoton, als würde er ein Gedicht rezitieren. »Dupré wusste, an wen er sie weitergeben konnte. Keiner hat dem anderen genug vertraut, um ihm seine Geheimnisse zu enthüllen. Sie beschlossen, gemeinsam zu fliehen, jeder mit seinem Teil seines Wissens. Aber Dupré war krank. Sie mussten fliehen, bevor es ihm noch schlechter ging.«
Dupré? Bei ihrer nächtlichen Befragung der Gefangenen hatte sie nichts über einen Dupré gehört. Und es war nur ein Gefangener geflohen, hatte der Junge gesagt. »Ist es ihnen gelungen?«
Reynard schüttelte traurig den Kopf. »Dupré wurde von einem Wachmann getötet.«
Sie war ganz nah dran. Irgendwo hier lag die Erklärung. »Dann … dann konnte St. Siens die Informationen überbringen?«
»Kurz vor seinem Tod hat Dupré ihm gesagt, wer der führende Kopf des französischen Geheimdienstes ist.«
Beatrix war jetzt alles klar. John
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