Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
Sie würden nicht wissen, wie man sie töten müsste. Sie konnte dafür sorgen, dass sie ihre Anwesenheit für einen Traum hielten. Aber sie musste eines zugeben: Sie zögerte, sich mitten in diesen Haufen wütender und frustrierter Männer hinein zu begeben.
Sie lächelte. Wie lange war es her, dass irgendetwas sie hatte zaudern lassen? Lange, bei der Schlacht von Agincourt war es das letzte Mal gewesen. Tausende französische Ritter waren laut schreiend auf sie zugestürmt … Sie erinnerte sich an das befreiende Gefühl, mit einem Schwert um sich schlagen zu können, in ein Kettenhemd gekleidet zu sein wie ein Mann. Sie hatte sich an jenem Tag von einer Kraft erfüllt wahrgenommen, die größer gewesen war als die eines jeden Mannes. Wie lange war es her, seit sie sich einem Ziel ganz hingegeben hatte? Jetzt wollte sie etwas. Sie wollte wissen, was aus John Staunton geworden war.
Die Wachen machten kehrt und kamen auf sie zu. Jetzt oder nie. Sie ließ die Schwärze aufsteigen und trat aus ihr heraus, hinein in die wimmelnde Dunkelheit unter Deck.
Sie stolperte und fiel auf die Knie, was einiges Knurren und auf Französisch den Ruf »Pass doch auf, du gottverdammte Schwuchtel!« auslöste. Sie rappelte sich auf. Der Gestank raubte ihr fast die Sinne. Ungewaschene Körper, Erbrochenes, Urin, Teer und darunter der subtile Geruch von Krankheit und nahem Tod. Sie atmete durch den Mund und hielt sich mit einer Hand die Nase zu. Die Gefangenen schliefen auf dem Boden, dicht an dicht, oder lagen in Hängematten wie Reihen von Kokons, die in der Dünung hin und her schwangen.
Beatrix riss sich zusammen, lehnte sich gegen die Leiter und lieh sich gerade so viel Kraft von ihrem Gefährten, um die Suggestion bei einem Mann anzuwenden, den sie durch die Dunkelheit sehen konnte; für jeden anderen, der nicht von ihresgleichen war, wäre die Schwärze undurchdringlich gewesen. »Berichte mir von St. Siens«, wisperte sie.
»Kenn ich nicht«, stöhnte er und öffnete ein Auge. »Aber dich würd ich gern kennen.«
Sie versuchte es bei einem anderen. »Kaufmann«, flüsterte sie.
So verging die Nacht. Gegen Morgen war Beatrix im untersten Deck angekommen. Die Zeit lief ihr davon. Sie wusste inzwischen einiges über Johns Aufenthalt auf diesem Schiff. Indem sie zwischen den schlafenden Gefangenen herumging und ihnen ihre drängenden Fragen in ihre Träume flüsterte, erfuhr sie, dass er die Strafe für das Aufbegehren eines Freundes auf sich genommen hatte, dafür ausgepeitscht und mehrere Tage an einem Ort eingesperrt worden war, der »das Loch« genannt wurde. Sie hörte, dass er einen Maler namens Garneray dazu gebracht hatte, Banknoten zu fälschen, damit die Gefangenen sich neu ausstatten konnten, wenn der Lieutenant ihre Sachen wieder einmal über Bord werfen ließ. Sie spürte die große Befriedigung der Gefangenen darüber, dass Rose wegen Geldfälscherei an Bord der Vengeance verhaftet worden war. Sie waren sicher, dass John das arrangiert hatte. Und auch Beatrix bezweifelte das nicht. Sie hörte von seiner Flucht, nackt, in einem leeren Versorgungsfass und mithilfe eines bestochenen Bootsführers. Einige glaubten, der Bootsführer habe ihn verraten, andere, dass er in die eiskalte See geworfen worden und ertrunken war oder dass er, so nackt wie er gewesen war, von den Beamten des Transport Office gefasst worden war. Sie hatten Angst zu glauben, er könnte es tatsächlich geschafft haben. Gleichzeitig wollten sie, dass er von ihrer gegenwärtigen Lage erfuhr; davon, dass der neue Kapitän den Wachen nicht erlaubte, von dem etwas einzustreichen, was die Gefangenen sich verdienten, dass das Loch versiegelt und die Prügelstrafe verboten worden war, dass die Dinge sich gebessert hatten, die Situation jedoch noch immer schlimm genug war.
Sie erkannte, dass John ihnen Hoffnung gegeben hatte, die Zuversicht, dass sie ihr Schicksal beeinflussen konnten. Beatrix bahnte sich ihren Weg zwischen den Gefangenen hindurch, die anfingen sich zu regen. Sie weckte einen und wisperte: »Du hast von einem Wachmann gehört, dass St. Siens es zurück nach Frankreich geschafft hat. Er ist entkommen.« Der Gefangene würde es den anderen erzählen und es dabei noch ausschmücken.
Sie seufzte. Sie musste gehen. Obwohl sie jetzt sehr viel mehr über John wusste, hatte sie niemanden gefunden, der ihr hatte sagen können, warum er sich an diesem schrecklichen Ort hatte einsperren lassen, oder wo er jetzt war. Er wäre nicht geflohen, ohne
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